Allein in Österreich hat sich die Zahl der tagesklinischen Eingriffe in den letzten zehn Jahren verdreifacht. Der Trend zum ambulanten Eingriff und zur ambulanten Anästhesie brignt Fortschritte für die Patientensicherheit, betont ao. Univ.-Prof. Dr. Anette-Marie Schultz,Universitätsklinik für Anästhesie, Allgemeine Intensivmedizin und Schmerztherapie, Medizinische Universität Wien / AKH Wien. Sie ist Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI) und Council Member für Österreich in der Europäischen Anästhesiegesellschaft (ESA).

Tagesklinische und ambulante chirurgische Eingriffe boomen geradezu – und somit gewinnt auch das Instrumentarium der ambulanten Anästhesie zunehmend an Bedeutung. Ich leite den so genannten „Weißen Bereich“ an der Universitätsklinik für Anästhesie, Allgemeine Intensivmedizin und Schmerztherapie in Wien. Wir führen nahezu alle Anästhesien durch, die nicht im klassischen Operationsbereich liegen, sei es für diagnostische Zwecke, sei es für medizinische Eingriffe. Das waren letzten sechs Jahren nicht weniger als 9.000 Narkosen.

Zahlen der Statistik Austria bestätigen, wie stark ambulante und tagesklinische Eingriffe im Kommen sind. Demnach haben sich die chirurgischen Eingriffe mit einem so genannten Null-Tagesaufenthaltes, wie die gesundheitsbürokratische Bezeichnung für einen solchen Eingriff ohne anschließenden Spitalsaufenthalt über Nacht lautet, in den letzten zehn Jahren fast verdreifacht: Sie stieg von 93.581 im Jahr 2007 auf 264.200 im Jahr 2017. Fast die Hälfte der tagesklinisch durchgeführten Eingriffe entfällt dabei übrigens auf Augen-Operationen, der Rest teilt sich auf viele andere Bereiche und ein äußerst heterogenes Patientenkollektiv auf – vom Säugling bis zu älteren Personen mit Begleiterkrankungen.

Die ambulante Anästhesie ist daher ein spannendes und auch sehr großes Entwicklungsfeld – ein Umstand, der sich übrigens auch im Programm des europäischen Anästhesiekongresses Euroanaesthesia 2019 widergespiegelt hat, der Anfang Juni in Wien stattfand.

Warum können Patientinnen und Patienten heute ambulant Interventionen und Operationen erhalten, die noch vor wenigen Jahren stationär hätten aufgenommen werden müssen? Wir verdanken das insbesondere den innovativen Operationstechniken. In vielen chirurgischen Fachdisziplinen ersetzen minimal invasive Interventionen zunehmend aufwändige chirurgische Eingriffe mit großen Schnitten. Ein Beispiel von vielen ist die Ablation oder Verschorfung von Lebermetastasen oder Lebertumoren in der interventionellen Radiologie. Dafür war früher eine große OP am offenen Bauch nötig, selbstverständlich unter Vollnarkose. Heute ist ein solcher Eingriff ambulant möglich, minimal-invasiv und unter Sedierung. Ähnliches gilt für bestimmte Herz-Thorax-Eingriffe, die Versorgung von Aortenaneurysmen und das Setzen von Stents: Auch hier sind die Operationstechniken so schonend geworden, dass eine Sedierung die Allgemeinnarkose ersetzen kann.

Für unsere Patientinnen und Patienten ist das höchst vorteilhaft: Sie haben ein deutlich geringeres Operationsrisiko, maximal kurze bis keine stationäre Krankenhausaufenthalte und eine schnellere Rehabilitationszeit – mit all den positiven Konsequenzen für ihr Berufs- und Alltagsleben.

Ambulante Anästhesie erfordert eine perfekte interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Anästhesie, den chirurgischen und den diagnostischen Fachdisziplinen und sorgfältigste Vorbereitung. Die anästhesiologische Betreuung muss für die individuelle Situation maßgeschneidert sein. Denn ambulantes Operieren und ambulante Anästhesie bedeuten dann einen großen Fortschritt für die Patientensicherheit, wenn sie beim jeweils geeigneten Eingriff und dem individuell aufgrund der Gesamtumstände geeigneten Patienten eingesetzt werden. Das beginnt schon mit der Patientenauswahl, die sich an gesundheitlichen Aspekten, aber auch am soziales Umfeld und den Lebensumständen der Betroffenen orientiert. Hier müssen wir alle denkbaren Risiken vermeiden, wenn Patientinnen und Patienten nach dem Eingriff nach Hause gehen und nicht mehr unter unserer Überwachung stehen. Gibt es daheim Unterstützung, ist da jemand, der im Notfall eingreifen oder die Rettung rufen kann? Wie steht es um den kognitiven Zustand? Viele solcher Umfeldfragen bedürfen neben dem Gesundheitszustand der Abklärung.

Eine wichtige Schlüsselfrage lautet: Wie sieht die minimal notwendige Anästhesie bei absolutem Patientenkomfort und hoher Patientensicherheit aus? Auch das ist individuell sehr unterschiedlich. In allen Altersgruppen gilt das Motto „Nur so viel Anästhesie wie nötig – und keine Anästhesie, wo nicht nötig“. Babys zum Beispiel, die für eine Magnetresonanztomografie stillhalten sollen, muss man nicht unbedingt sedieren, wie dies verbreitet üblich war und ist. Bei ihnen funktioniert auch das Konzept „Feed and Wrap“: Nach dem Füttern schlafen Säuglinge ein. Danach kann man sie in eine Art Schlafsack legen und die Lärmbelastung maximal reduzieren, um die diagnostischen Maßnahmen durchzuführen. Das Motto „Keine Anästhesie, wo nicht nötig“ zahlt erneut in die Patientensicherheit ein: Seit Jahren gibt es die wichtige Diskussion, wie man die ungestörte neurologische Entwicklung von Kindern sicherstellen kann, die Narkosen vor Beendigung des 2. Lebensjahres erhalten müssen. Diese Diskussion ist auch am anderen Ende des Spektrums wichtig: Auch bei älteren Personen kann zu viel an Anästhesie negative kognitive Folgen haben. Begleiterkrankungen, an denen ältere Patientinnen und Patienten häufig leiden, sind eine zusätzliche Herausforderung. Der Kongress widmet daher etwa der Diabetes-Einstellung und Thromboseprophylaxe in der ambulanten Anästhesie eine eigene Veranstaltung.

So großartig die Instrumentarien der ambulanten Anästhesie sind, für manche Patientengruppen ist das nicht geeignet. Bestimmte schwere und komplexe Eingriffe erfordern natürlich nach wie vor einen Spitalsaufenthalt. Problemtisch wäre die ambulante Anästhesie auch bei Menschen, die einen sehr schlechten Allgemeinzustand haben und zum Beispiel an schwerer Herzinsuffizienz, einer schweren Lungenerkrankungen wie COPD und Asthma oder an schwerer Adipositas und ihren Begleiterkrankungen leiden. Auch bei Menschen mit schlecht eingestelltem Diabetes ist eine ambulante Anästhesie zu problematisch.

Insgesamt ist ambulante Anästhesie kosteneffizient und kann so auch indirekt zu mehr Patientensicherheit beitragen: Die Gruppe der älteren Patienten, die immer komplexere Eingriffe bekommen, zum Beispiel in der Orthopädie und Kardiologie, wächst stark und hat hohen Betreuungsbedarf. Wenn wir durch mehr tagesklinische Eingriffe weniger stationäre Ressourcen verbrauchen, haben wir genau für diese besonders sensible Gruppe mehr Kapazitäten frei – und das ist sehr wichtig.

Als letzten Aspekt möchte ich noch die wichtige Rolle der perioperativen Begleitung in der ambulanten Anästhesie herausgreifen: Wir Anästhesistinnen und Anästhesisten haben hier eine wichtige Beratungsfunktion für das unmittelbar postoperative bzw. postinterventionelle Verhalten und die anschließende Schmerztherapie. Und damit für entscheidende Faktoren für den Erfolg eines Eingriffs.