Die globale SARS-CoV-2-Krise hat für eine breite Öffentlichkeit das Fach Anästhesie und Intensivmedizin als ein Rückgrat der Spitalsversorgung auf ganz besondere Weise sichtbar gemacht. Zahlreiche Maßnahmen der Pandemiebewältigung wurden mit Blick darauf unternommen, eine Überforderung der Intensivkapazitäten zu vermeiden. Für viele Menschen wurde deutlich und besser verständlich, was die moderne Intensivmedizin leistet, und dass sie nicht auf Gerätemedizin reduzierbar ist, sondern dass der menschliche Faktor eine zentrale Rolle spielt. 

Die Krise hat auch in Österreich das Bewusstsein dafür geschärft, wie wertvoll ausreichende Ressourcen sind, die eine Intensivmedizin auf qualitativ höchstem Niveau gewährleisten. Die im internationalen Vergleich gute intensivmedizinische Ausstattung in Österreich sowie das hohe Engagement aller in unserem Fachgebiet tätigen Gesundheitsberufe waren wichtige Vorteile in der Krisenbewältigung.

Die Erfahrungen aus der Pandemie und den Spitzenbelastungen der vergangenen Monate sollten dafür genutzt werden, die österreichische Intensivmedizin nicht nur bestmöglich für potenzielle künftige Krisensituationen vorzubereiten, sondern generell zukunftssicher zu gestalten. Es ist wichtig jetzt sicherzustellen, dass die Intensivmedizin nicht nur leistungsfähig bleibt, sondern dass auch, wo immer möglich, an weiteren Optimierungen gearbeitet wird, sodass die Intensivmedizin für künftige demographische und medizinische Entwicklungen gerüstet ist. Wie die Intensivmedizin weiterentwickelt und gestärkt werden kann, muss Gegenstand eines intensiven Austauschs aller interessierten Kräfte sein. Die ÖGARI steht jedenfalls bereit, an der weiteren Stärkung und dem Ausbau der Intensivmedizin zentral mitzuwirken.

  • Starke Veränderungen in der Altersstruktur der Patientinnen und Patienten, die Zunahme der Zahl und Schwere der Vorerkrankungen und die Tatsache, dass erfolgreiche Behandlungen heute auch bei Menschen mit eingeschränkten Leistungsreserven möglich geworden sind, sollten sich in künftigen Anpassungen des Österreichischen Strukturplan Gesundheit (ÖSG) stärker widerspiegeln.  
  • Es ist wichtig, mit Blick auf mögliche künftige Krisen vorsorglich flexible, abgestufte Strukturen zu schaffen, die im Notfall für die Intensivversorgung mobilisierbar sind – auf der Ebene von Betten und Geräten ebenso wie im Hinblick auf die personelle Ausstattung. Im Krisenfall müssen entsprechende Verordnungen für Rechtssicherheit beim Einsatz flexibler Ressourcen sorgen.
  • Erforderlich ist eine Nachschärfung bei den Struktur- und Qualitätsmerkmalen für die personelle und technische Ausstattung von Intensivbehandlungseinheiten der verschiedenen Kategorien. Aus Sicht der ÖGARI benötigt ein belastungsstabiles System bundesländerübergreifende Mindeststandards für die personelle Ausstattung des gesamten Anästhesiebereichs mit seinen Operationssälen, Aufwachräumen bzw. Holdingareas.
  • Aufwachräume und Holdingareas, in denen im Regelfall die Nachbetreuung von unmittelbar postoperativen Patientinnen und Patienten erfolgt, können, wie die aktuelle Pandemie gezeigt hat, rasch zu intensivmedizinischen „Noteinrichtungen“ umfunktioniert werden. Allerdings scheinen diese Bereiche im aktuellen ÖSG nicht auf; die Finanzierung muss daher durch die Krankenhäuser selbst erfolgen. Diese Räumlichkeiten stellen also eine wichtige intensivmedizinische Reserve dar und benötigen eine gesundheitsplanerische und finanzielle Absicherung.
  • Die Herausforderungen der Pandemie haben die Notwendigkeit deutlich gemacht, im Krisenfall zusätzliche Personalreserven für die Intensivversorgung mobilisieren zu können, zum Beispiel ärztliches und Pflegepersonal aus dem Bereich Anästhesie. Hier bewährt sich das österreichische Modell, ärztliches Personal in der Intensivmedizin auf der Basis eines Grundlagenfaches wie Anästhesie oder Innerer Medizin auszubilden, statt im Rahmen einer eigenen Facharztausbildung. Das sichert nicht nur flexible Einsatzmöglichkeiten von qualifiziertem Personal, sondern auch die Attraktivität des Fachs für ausreichenden und gut qualifizierten professionellen Nachwuchs. In ähnlicher Weise sollten aus Sicht der ÖGARI die pflegerischen Spezialausbildungen in Anästhesie- und Intensivpflege zumindest in Teilbereichen über ein gemeinsames theoretisches und praktisches Curriculum verfügen, damit insbesondere in Krisenzeiten ein flexibler Einsatz dieses hochqualifizierten Personals möglich ist.      
  • Generell muss die Zukunft der Intensivmedizin immer auch die Zukunft der Intensivpflege mit betrachten, und es müssen alle Potenziale genutzt werden, um eine Tätigkeit in der Intensivpflege attraktiv zu machen.
  • Um die Verbleiberate im Beruf zu erhöhen, ist es erforderlich, die Gesunderhaltung des Intensivpersonals aller Berufsgruppen optimal zu unterstützen, z.B. Supervision oder Coaching.
  • Die Aufmerksamkeit für COVID-19-Patientinnen und Patienten hat für viele deutlich gemacht, dass eine kritische Erkrankung nicht mit der Entlassung aus der Intensivstation endet. Es gilt, den gesamten Patientinnen- und Patientenweg in die Intensivmedizin und nach dem ICU-Aufenthalt noch besser zu strukturieren: Dazu gehört die Vorbereitung von Standards und Leitfäden für strukturierte, diagnoseunabhängige und prognosegestützte Entscheidungen über ICU-Aufnahmen und Therapiezieländerungen  ebenso wie eine bestmögliche Begleitung in die Phase der Rekonvaleszenz. Auch die Förderung von  ‚advanced care planning‘ ist ein wichtiges Element davon.
  • Die erhöhte Sensibilität für die Intensivmedizin in der Öffentlichkeit sollte für weitere Informationsarbeit und Gesundheitsbildung genutzt werden, um noch mehr Verständnis für die intensivmedizinischen Aufgaben und Abläufe zu schaffen und der Bevölkerung evidenzgesicherte Information weiterzugeben.
  • Die Krise hat den potenziellen Nutzen einer erweiterten Intensivdokumentation deutlich gemacht. Es sollten die technischen Voraussetzungen geschaffen werden, um das bestehende Dokumentationssystem in der Intensivmedizin auszubauen (z.B. automatische Übernahme verfügbarer Daten). Auf diesem Weg sollten sich epidemiologische Fragestellungen oder Fragen der intensivmedizinischen Forschung unkomplizierter beantworten und finanzierungsrelevante Aspekte besser abbilden lassen. Die starke Gerätezentrierung der aktuellen Dokumentation und Abgeltung sollte an die Prinzipien der modernen menschenzentrierten und personalintensiven Intensivmedizin mit weniger Invasivität angepasst werden.
  • Eine optimale Nutzung von Informationstechnologien, Big Data und Künstlicher Intelligenz könnten intensivmedizinische personelle Ressourcen schonen und die Versorgung stärken. Smart Monitoring und der Ausbau telemedizinischer Möglichkeiten sind Beispiele dafür. Informationstechnologien sollten auch verstärkt dazu genutzt werden, den Kontakt und Kommunikation von Intensivpatientinnen und -patienten mit ihren An- und Zugehörigen aufrecht zu erhalten.