In diesem Jahr widmete sich der AIC Digital 2020 dem Themenschwerpunkt Digitalisierung. Assoc.-Prof. PD Dr. Oliver Kimberger, MSc, MBA, Vorstandsmitglied der ÖGARI, Wien, erläuterte im Online-Pressegespräch der ÖGARI, wie digitale Technologien dazu beitragen können, medizinische Versorgung nachhaltig zu verbessern und welche Voraussetzungen dafür geschaffen werden müssen.

Durch die Pandemie ist es zu einem Digitalisierungsschub in der Medizin gekommen. Sicherlich werden einige der jetzt verwendeten digitalen Lösungen und Tools wieder verschwinden, aber ich gehe davon aus, dass uns die Mehrzahl der neu aufgesetzten digitalen Prozesse erhalten bleibt und der Prozess der Digitalisierung noch weiter vorangetrieben wird.

In der Anästhesie könnte beispielsweise die nun gut etablierte Praxis der Patientinnen- und Patientenaufklärung per Telefon oder Internet beibehalten werden. Da damit nun keine Wartezeiten in der Ambulanz mehr verbunden sind, wird das System von unseren Patientinnen und Patienten sehr gut angenommen. An unserer Abteilung finden auch sämtliche abteilungsweiten Besprechungen der Ärztinnen und Ärzte und des Pflege-Teams via Telekonferenz-System statt, sowohl administrative als auch solche, die Fragen der Patientinnen/Patienten-Versorgung und des Patientinnen/Patienten-Managements beinhalten – mit der Möglichkeit, jederzeit auch auf alle wesentlichen Daten von Patientinnen und Patienten während der Konferenz zugreifen zu können.

Vor der Pandemie war es aus Datenschutzgründen und Gründen des IT-Aufwands nur in Ausnahmefällen möglich, von außen auf die Krankenhausinformationssysteme des AKH zuzugreifen. Nun ist es unter Einhaltung strenger Sicherheitsbestimmungen für zahlreiche Kolleginnen und Kollegen ermöglicht worden. Somit können Intensivmedizinerinnen und -mediziner, wenn sie beispielsweise in Quarantäne sind, im Homeoffice Beurteilungen von Patientinnen und Patienten mit Ihren Kolleginnen und Kollegen vor Ort besprechen und so trotz Quarantäne oder während einer Kohortenabwesenheit auch einen telemedizinischen Beitrag leisten.

Online-Kongresse, virtuelle Fortbildung

Besonders eindrucksvoll und vermutlich nachhaltig zeigt sich der Digitalisierungsschub bei Kongressen, Konferenzen und selbst kleinsten Meetings. Online-Kongresse werden wohl auch in Zukunft vermehrt stattfinden, da sie einfacher zu organisieren sind, Flugkilometer und Kosten einsparen und Wissensvermittlung auch virtuell oft gut möglich ist. Ähnlich verhält es sich mit der Aus- und Fortbildung. Wir haben an der Universitätsklinik für Anästhesie und Intensivmedizin mit Online-Veranstaltungen bezüglich Teilnehmerzahl mit über 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern und Interaktionsmöglichkeiten trotz der Größe der Veranstaltungen sehr gute Erfahrungen gemacht. Allerdings wird die Vernetzung der wissenschaftlichen Community auch in Zukunft nicht komplett virtuell erfolgen – insbesondere in der Anfangsphase und während des Brainstormings von Projekten sind das Kennenlernen und der persönliche, direkte Austausch extrem wichtig. Dies klappt trotz ausgefeilter Videokommunikationssysteme leider nur sehr eingeschränkt. 

Was auch noch Optimierungspotential hat, ist die Vernetzung der Krankenhäuser untereinander, und da hat die COVID-19-Pandemie noch keinen fundamentalen Innovationsschub verursacht. Noch immer gibt es das Problem zahlreicher sogenannter „Datensilos“ im Krankenhaus und zwischen den Krankenhäusern, die es erschweren, alle Informationen über einen Patienten bzw. eine Patientin oder auch über die Ressourcen der Krankenhäuser an sich zu aggregieren. 

Nicht zuletzt hat die COVID-19-Pandemie auch zu einer stärkeren, digitalen Präsenz der Krankenhäuser im Bewusstsein der Bevölkerung geführt, wie das hohe Interesse an den Dashboards, die die Krankenhausressourcen zeitnah darstellen, beweist – mit allen Herausforderungen und Unschärfen, die diese Darstellungen mit sich gebracht haben.

Decision-Support-Systeme – digitale Entscheidungshilfen

Das größte Zukunftspotential der Digitalisierung für die Anästhesie sowie die Notfall- und die Intensivmedizin sehe ich in Decision-Support-Systemen. Im Idealfall verknüpfen sie riesige Datenmengen automatisch, analysieren diese mittels Methoden aus dem Baukasten der Künstlichen Intelligenz (KI), zum Beispiel mit Maschinenlernen und neuronalen Netzen, und stellen dann den Ärztinnen und Ärzten Entscheidungsunterstützungen zur Verfügung. Sie zeigen weiters Optimierungsmöglichkeiten auf, warnen unter anderem vor Abweichungen von den Guidelines, vor Medikamenteninteraktionen oder weisen auf die Entwicklung zukünftiger Pathologien wie Sepsis, Nierenversagen, Instabilität etc. hin. Um allerdings für die klinische Praxis tauglich zu sein, müssen diese digitalen Tools sehr hohe Ansprüche erfüllen, erfolgreich in der Interaktion mit den Gesundheits-Expertinnen und -Experten sein und, was die Zulassung betrifft, natürlich wie Medizinprodukte behandelt werden.

Wenn aber Entscheidungshilfen, die auf neuronalen Netzen basieren, Warnungen oder Hinweise geben, so ist teilweise schwer zu beurteilen, ob sie das auch verlässlich bei jeder möglichen Input-Kombination machen. Bei falschen Warnungen oder ausbleibenden Alarmen stellt sich auch naturgemäß die Frage der Verantwortung: Wie weit liegt diese bei den Ärztinnen und Ärzten und wie weit beim Gerätehersteller? Noch komplizierter wird diese Problematik bei selbstlernenden KI-Systemen.

Tatsächlich sind die digitalen Maschinen aber nur so gut, wie die Interaktion zwischen den Medizinerinnen und Medizinern sowie den Maschinen auch tatsächlich gelingt. Darüber hinaus sind Algorithmen der künstlichen Intelligenz auch nur so „gut“ wie die Daten, mit denen sie gefüttert werden bzw. wie die Ärztinnen und Ärzte, von welchen sie gelernt haben. Und hier steckt mit Sicherheit eine der größten Herausforderungen für die großflächige Einführung von Systemen der künstlichen Intelligenz in der Patientenbehandlung: Ein großer Teil der Informationen über Patientinnen und Patienten besteht immer noch aus Freitext, dem klassischen „Arztbrief“, der nicht einfach und standardisiert von einem Computerprogramm verarbeitet werden kann.

Zwar gibt es bereits künstliche Intelligenzsysteme, wie beispielsweise „Watson“, die auf Textverständnis spezialisiert sind und mit Englisch schon gut zurechtkommen, für die das österreichischem Medizindeutsch aber eine Herausforderung darstellt. Ich bin dennoch davon überzeugt, dass solche Programme sehr großes Potenzial haben und früher oder später großflächig in nahezu jeden Aspekt des medizinischen Alltags Eingang finden werden. Ganz ohne eine Zunahme der Standardisierung im Bereich des Informations-Inputs von Seiten der Ärztinnen und Ärzte wird dies allerdings nicht möglich sein – was natürlich gerade bei der Einführung solcher Standardisierungsmaßnahmen mit schmerzhaften Umlernprozessen verbunden sein kann.

Telemedizin für Notärztinnen und -ärzte

Im Notarztwesen ist eine Forcierung der Telemedizin sehr sinnvoll, da der Notarzt oder die Notärztin nicht selten zu einer Behandlung von Patientinnen oder Patienten gerufen wird, obwohl er oder sie dies gar nicht benötigt, während der Einsatz bei einem anderen Patienten oder einer anderen Patientin dringender gebraucht werden würde, aber dann natürlich nicht mehr möglich ist. Dass sich hier die Telemedizin bewährt, zeigt ein seit längerer Zeit in Aachen laufendes Projekt, bei dem die Sanitäterinnen und Sanitäter, die rasch vor Ort sind, nach Eintreffen am Einsatzort einen Tele-Notarzt bzw. eine Tele-Notärztin kontaktieren und Daten der Patientinnen und Patienten sowie Audio- oder Videomaterial übermitteln. Ein Telenotarzt entscheidet dann telemedizinisch, ob eine physische Präsenz eines Notarztes oder einer Notärztin notwendig ist oder gibt Anweisungen, wie der Patient bzw. die Patientin behandelt werden soll. Das spart Zeit und optimiert Ressourcen. Leuchtturm-Projekte zum telemedizinischen Datenaustausch zwischen Intensivstationen, der Klinik, einer notärztlichen „Zentrale“, Notärztinnen und Notärzten sowie Notfallsanitäterinnen und -sanitätern laufen auch am Wiener AKH. Mittels Telemedizin kann das Krankenhaus schon aus der Ferne das EKG oder das Ultraschallbild des Patienten und andere Vitaldaten in Echtzeit sehen und kann sich so optimal vorbereiten, noch ehe der Patient in den Schockraum oder auf die Notaufnahme kommt. Auch bei der sogenannten „Forward Triage“ bringt die Telemedizin große Vorteile – hier kann anhand von telemedizinischen Parametern entschieden werden, welches Krankenhaus für den jeweiligen Patienten die optimale Versorgungssituation anbieten kann.

Besseres Monitoring auf der Normalstation, Digitale Bildgebung

Vorangetrieben werden sollte auch die Digitalisierung der Normalstationen – also die kontinuierliche Erfassung von Vitalparametern von Patientinnen und Patienten auch auf der Normalstation mittels moderner, minimaler Sensortechnologie. Im Vergleich zu den Intensivstationen werden hier noch sehr selten die Daten der Patientinnen und Patienten kontinuierlich und direkt digital erfasst. Es besteht jedoch die Gefahr, dass sich der Zustand der Patientinnen und Patienten nach der Verlegung auf die Normalstation vom Aufwachraum oder einer Intensivstation verschlechtert, und das nicht rechtzeitig registriert wird. Das könnte verhindert werden, indem man die Patientinnen und Patienten mit „Wearables“ versieht – also mit Sensoren und Sendern, die die Patientinnen und Patienten nicht ans Bett fesseln, aber weiterhin kontinuierlich Vitalparameter erfassen und senden. Dazu braucht es aber auch ein intelligentes digitales System, das Alarm schlägt, wenn sich der Zustand von Erkrankten verschlechtert.

Großes Potenzial steckt auch in den Technologien der virtuellen (VR) oder augumented (AR) Realität. In der Anästhesie kommt diese Technologie beispielsweise in Simulationen für Ausbildungszwecke zur Anwendung. VR-Systeme bewähren sich zunehmend beim Einsatz in der Therapie von Schmerzen bei kleineren Eingriffen oder zur Ablenkung im Bereich der pädiatrischen Anästhesie. Zukünftig wird über AR auch die Übertragung dreidimensionaler Bilder, die über CT, MR oder Ultraschall aufgenommen wurden, während Eingriffen an Patientinnen und Patienten über Datenbrillen eine regelhafte Anwendung finden. 

Problemfelder der Digitalisierung

Bei allen Vorteilen, die uns diese Innovationen bringen können: Man muss sich bei der Telemedizin und allen digitalen Neuerungen immer fragen, ob diese tatsächlich die Verbesserung der Versorgungsqualität der Patientinnen und Patienten im Fokus haben oder vielleicht nur Personaleinsparungen kompensieren wollen. Weitere Problemfelder sind, dass große Mengen an Patientendaten auch für die Verwertung zu kommerziellen Zwecken sehr begehrt sind, man also achtgeben muss, dass die Digitalisierung nicht ausschließlich im rein kommerziellen Bereich vorangetrieben wird und sich um größtmögliche Transparenz bemühen. Datenschutz ohne wesentliche Beeinträchtigung der Einfachheit von Zugriff und Verarbeitung ist ein Spagat, der nicht einfach zu realisieren ist und Fragen der Kontrolle jedes und jeder einzelnen über seine/ihre Daten sind zu diskutieren. Und nicht zuletzt ist es wesentlich, nicht darauf zu vergessen, dass es Menschen gibt, die noch keinen oder nur einen sehr eingeschränkten Zugang zur digitalen Welt haben und daher bei einer vollständigen Digitalisierung im Gesundheitswesen nicht nur nicht davon profitieren würden sondern zurückgelassen werden könnten. Bei aller Begeisterung über das Potential der Digitalisierung muss also auch für unsere Patientinnen und Patienten jenseits der „digitalen Kluft“ mit bestmöglicher Behandlungsqualität gesorgt werden.