Im Rahmen des Euroanaesthesia Congress 2018 in Kopenhagen (DK) diskutierten Expertinnen und Experten über Machbarkeit sowie Für und Wider einer opioidfreien Anästhesie (OFA). In der rezenten Ausgabe des European Journal of Anaesthesia wurden die Argumente in dieser Debatte nun auch in Form eines Kommentars und zweier Editorials publiziert.1,2,3

In den USA liegt der Pro-Kopf-Verbrauch an starken Opioiden bei etwa dem Zehnfachen des globalen Durchschnitts. Die mit Opioiden assoziierte Morbidität und Mortalität hat die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA veranlasst, neue Direktiven für deren Einsatz zu erlassen und  opioidsparende thrapeutische Ansätze zu forcieren.

Das Konzept der „Nozizeption“

Die Entwicklung synthetischer Opioide wie Fentanyl hat die Anästhesie revolutioniert, indem sie eine sicherere Anästhesie auch von Patienten in schlechtem Allgemeinzustand erlaubten. Potentere und ultrakurz wirksame Substanzen haben weiter dazu beigetragen, dass synthetische Opioide einen hohen Stellenwert in der Anästhesie erhalten haben. Doch bereits vor 20 Jahren wurde vor Risiken wie Atemdepression, verzögerte Erholung und opoidinduzierte Hyperalgesie gewarnt. Dies hatte die Entwicklung einer balancierten Anästhesie, bei der Opioid- und Nicht-Opioid-Analgetika kombiniert werden, zur Folge. Das neue Paradigma der OFA soll einen wichtigen Schritt in Richtung eines rationalen perioperativen Opioid-Gebrauchs darstellen.

Sowohl Lirk als auch Prof. Patricia Lavand’homme, Univ.-Klinik Saint Luc in Brüssel (B), betonen, dass das Konzept des intraoperativen Schmerzes einer Anpassung bedarf. Lavand’homme: „Für Patienten in Anästhesie oder anderen Zuständen fehlenden Bewusstseins sollte der Begriff ‚Schmerz‘ durch ‚Nozizeption‘ ersetzt werden, der die neuronalen Prozesse der Schmerzverarbeitung besser beschreibt.“ Darüber hinaus sind neue und zuverlässige Instrumente zur Erfassung der „Nozizeption“ erforderlich, die eine adäquate Titration der Schmerztherapie – sei es mit Opioiden oder Nicht-Opioid-Analgetika – erlauben. „Derzeit gebräuchliche Surrogatparameter der Nozizeption wie die sympathische/parasympathische Balance oder die Pupillenweite sind dafür nicht geeignet, da sie durch die intrinsische Wirkung mancher dieser Substanzen beeinflusst werden“, so Dr. Francis Veyckemans, Hôpital Jeanne de Flandre, Lille (F).

Reduzierter Opioideinsatz

Es besteht derzeit ausreichende Evidenz dafür, den Nutzen einer intraoperativen Opioid-Verabreichung für Analgesie und Erholung in Frage zu stellen. Die OFA mit ihrem Einsatz von intraoperativen analgetischen Adjuvanzien wie Ketamin, Clonidin, Lidocain oder Dexamethason soll dazu beitragen, das Risiko für opioidassoziierte Nebenwirkungen wie Sedierung, Atemdepression, Übelkeit und Erbrechen in der Aufwachphase sowie postoperative Hyperalgesie zu vermeiden. „Viele dieser Substanzen wie etwa Propofol, Ketamin, Benzodiazepine und Gabapentin haben jedoch ebenfalls ein Suchtpotenzial“, so Lirk, der in weiterer Folge einen rationalen Einsatz von Opioiden befürwortet. So sei etwa die opioidinduzierte Hyperalgesie dosisabhängig und deren klinische Relevanz vor allem bei sehr schmerzhaften Eingriffen oder bei Langzeitbehandlungen von Patienten mit chronischen Schmerzen von Bedeutung. „Während die Reduktion von Opioiden durch Gabe von Koanalgetika und/oder durch Regionalanästhesie logisch und bei vielen Eingriffen nachweislich effektiv ist, ist die Evidenz für den Routineeinsatz einer reinen OFA nicht ausreichend“, so Lirk. Auch Lavand’Homme, die sich in ihrem Editorial für die OFA ausspricht, sieht Bedarf für weitere Studien, etwa zur Wahl des richtigen analgetischen Adjuvans und ob diese Wahl „patientenspezifisch“ oder„prozedurspezifisch“ erfolgen soll.

Fazit

Ziel sollte die Reduktion des Opioid-Gebrauchs im Rahmen einer Anästhesie und in der postoperativen Phase durch den Einsatz multimodaler Analgesie sein. „Bevor eine reine OFA implementiert werden kann, benötigen wir jedoch zuverlässige Instrumente zur Messung der intraoperativen Nozizeption und kontrollierte, randomisierte Studien, um die Kurz- und Langzeitfolgen zu evaluieren“, schließt Veyckemans.


Opioid-System in Balance

Kommentar Univ.-Prof. Dr. Rudolf Likar über die Unmöglichkeit einer opioidfreien Anästhesie.

Wir sind heute noch nicht so weit, die Nozizeption fundiert messen zu können. Wir können intraoperativ zwar physiologische Parameter wie Pupillenweite, Herzfrequenz-Variabilität, Hauttemperatur abbilden, allerdings sind das nur Surrogatparameter. Darüber hinaus ist Nozizeption nur von Bedeutung, wenn der Patient schläft. Ist er wach, so gilt: pain is, what the patient says it is. Das bedeutet, dass für die Schmerzwahrnehmung auch das individuelle Leiden ausschlaggebend ist. Schmerz ist also die Nozizeption plus das individuelle Leiden. Messen wir die Nozizeption im Schlaf, kennen wir das psychische Leiden nicht und geraten in Gefahr, Analgetika unterzudosieren. Dies kann unter Umständen dazu führen, dass die postoperative Schmerzwahrnehmung verstärkt ist, insbesondere, wenn der Patient bereits früher unter Schmerzen gelitten hat.

Ein Argument gegen die opioidfreie Anästhesie ist, dass wir in unserem Körper physiologische Opioid-Systeme haben, die sich in einem Gleichgewicht befinden. Setze ich einen Schmerzreiz, so werden Enkephaline und Endorphine freigesetzt, weshalb eine opioidfreie Narkose per se unmöglich ist. Es fragt sich nur, wie lange die endogenen Opioide ausreichend und wann sie erschöpft sind. Für kleine Eingriffe ist das körpereigene Opioid-System möglicherweise ausreichend. Opioidfrei bezieht sich also nur auf exogene Opioide, nicht endogen. Bei größeren Eingriffen stellt sich jedoch die Frage, ob der alleinige Einsatz von Kombinationen mit Lidocain, Ketamin, Magnesium, Dexmedetomidin ausreichend ist und ob nicht die endogene Erschöpfung des physiologischen Opioid-Systems die postoperativen Schmerzen verstärkt und das Chronifizierungs-Risiko erhöht. Das sind alles offene Fragen, die bisher noch nicht beantwortet wurden.


Bericht: Mag. Harald Leitner

Referenzen:

1 Veyckemans F. Eur J Anaesthesiol 2016;36:245–246.

2 Lavand’homme P. Eur J Anaesthesiol 2016;36:247–249.

3 Lirk P et al. Eur J Anaesthesiol 2016;36:250–254.