Risiken senken und die Sicherheit erhöhen: Patientensicherheit und Big Data sind unter den zentralen Themen des europäischen Anästhesiekongresses Euroanaesthesia 2019, zu dem mehr als 6.000 Teilnehmer aus über 80 Ländern in Wien zusammen kommen (1. bis 3. Juni). Digitalisierung ist eine besonders wichtige Innovationstreiberin in der Anästhesie und hilft dabei, Risiken zu vermeiden und Komplikationen frühzeitig zu erkennen. Wichtige Beiträge zur Patientensicherheit leisten auch  der zunehmende Trend zur ambulanten Anästhesie oder systematische Anämie-Checks vor der OP. Maßgeblich für ein hohes Sicherheitsniveau ist aber auch die optimale Ausbildung eines auch zahlenmäßig ausreichenden Nachwuchses in der Anästhesie und Intensivmedizin. Auch österreichische Forschergruppen präsentieren auf dem Kongress aktuelle Studienergebnisse, berichtete die ÖGARI bei einer Vorab-Pressekonferenz.

Patientensicherheit ist ein zentrales Thema des renommierten Europäischen Anästhesiekongresses Euroanaesthesia, der nach 2005 bereits zum zweiten Mal in Österreich stattfindet. Mehr als 6.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus über 80 Ländern werden nach Wien kommen, um von den Besten zu lernen, Erfahrungen und Wissen auszutauschen und neue Forschungsergebnisse zu präsentieren. „Wir empfinden es als große Auszeichnung für die österreichischen Anästhesiologie, dieses Großereignis gemeinsam mit der Europäischen Anästhesiegesellschaft ausrichten und mitgestalten zu dürfen“, sagt Univ.-Prof. Dr. Klaus Markstaller, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI) und Leiter der Universitätsklinik für Anästhesie, Allgemeine Intensivmedizin und Schmerztherapie, Medizinische Universität Wien/AKH Wien. Eine Reihe von österreichischen Forschergruppen bringen sich mit Poster-Präsentationen ein, darunter sind Ergebnisse aus der Grundlagenforschung  ebenso wie aus der klinischen Medizin.

Digitalisierung wird Patientensicherheit entscheidend verbessern

Als größte Treiberin für Innovationen in der Anästhesie hebt der ÖGARI-Präsident die Digitalisierung hervor: „Sie wird unsere Arbeit grundlegend verändern und vielfach die Patientensicherheit entscheidend verbessern.“ Gerade in der Anästhesiologie haben digitale Technologien und die Vernetzung großer Mengen an Daten ein besonders großes Potenzial. In kaum einem anderen Fach der Medizin wird eine derartige Vielfalt an Patientendaten erhoben – im Notarztwagen, während der Narkose oder in der Intensivstation. Von den Vitalfunktionen bis zur Medikation lassen sich digitalisierte Informationen verknüpfen. Diskussionen auf dem Kongress drehen sich hier um Fragen wie: Was ist mithilfe computergesteuerter Patientenüberwachung möglich? Welche Rolle könnte künstliche Intelligenz in der Anästhesie spielen? Wie könnte Big Data in kritischen Situationen in der Notfall- oder Intensivmedizin oder bei der Narkose helfen?

Von datenbasierten Entscheidungshilfen bis zur automatisierten Überwachung von Risikopatienten

ÖGARI-Präsident Prof. Markstaller nennt als Anwendungsgebiete etwa Decision Support Systeme, also Algorithmen, die auf großen Datenmengen basieren und Entscheidungsprozesse unterstützen können. „Flugzeugpiloten fliegen bekanntlich sehr gut mit solchen Systemen. In der Medizin ist ihr Potenzial noch bei Weitem nicht ausgeschöpft, sie wären eine große Hilfe, wenn etwa im Rahmen der Narkose unter hohem Zeitdruck Entscheidungen von großer Tragweite getroffen werden müssen.“

Ein anderes Anwendungsgebiet könnte ein digital gestütztes Arzneimittel-Management auf der Intensivstation sein, wo oft viele und potente Medikamente eingesetzt werden. Ein datengestütztes Alarmsystem könnte auf gefährliche Wechselwirkungen aufmerksam machen und viel zur Sicherheit beitragen. Überaus nützlich ist auch die digitale Überwachung von Risikopatienten, wie eine deutsche Studie kürzlich gezeigt hat. Nach einer Operation wurden bei ihnen lebenswichtige Funktionen mit einem mobilen Sensorset mehrmals täglich gemessen, die Daten wurden per WLAN übermittelt. Fast 4.000 Patientinnen und Patienten, die sich auch auf Normalstationen von einem chirurgischen Eingriff erholten, wurden so über einen Zeitraum von 24 Monaten beobachtet. Das digitale Frühwarnsystem löste dabei rund siebenmal mehr Meldungen beim Stationsarzt zu kritischen Zuständen der Patienten aus, als dies bei Patienten ohne Überwachungssensoren der Fall war. Die Rate der Herzstillstände konnte dadurch signifikant gesenkt werden.

Big Data im OP

Univ.-Prof. Dr. Dr. Kai Zacharowski, President-Elect der European Society of Anaesthesiology (ESA) und Direktor der Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Schmerztherapie, Universitätsklinikum Frankfurt, setzt große Hoffnungen in Big Data, um die Patientensicherheit zu erhöhen. „Weltweit verzeichnen wir mehr als 320 Millionen chirurgische Eingriffe pro Jahr, 80 bis 100 Million davon fallen auf Europa. Anders gesagt: Jede dritte bis vierte praktische Erfahrung von Patienten mit dem Spezial-Fachgebiet Anästhesiologie weltweit wird in Europa gemacht.“ Er sieht die dabei erhobenen Daten von Eingriffen, Vitaldaten im OP, Medikamentendosierungen etc. als „ungehobene Schätze“: Sie liegen in Aktenschränken, sind als Bilder abgespeichert oder auf einzelnen Servern verteilt geparkt. „Was aber, wenn wir sie miteinander verknüpfen und damit arbeiten, daraus lernen und Optimierungsstrategien ableiten? Big Data würde uns insbesondere auch helfen, unsere Daten europaweit vergleichbar zu machen. Wir könnten benchmarken und genau analysieren, wo mögliche Schwachstellen sind, an denen man arbeiten kann“, ist der President-Elect der ESA überzeugt. Daten von Eingriffen in ausreichender und vergleichbarer Qualität zu erheben, das ist inzwischen leichter möglich als je zuvor und auch keine große Kostenfrage mehr. Ein kostengünstiges digitales System, das auf einem iPad läuft, erlaubt, alle Daten zusammenzuführen. „Ich trete dafür ein, dass eine kostengünstige digitale Datenerfassung in der Anästhesiologie in allen europäischen Staaten Standard wird“, betont Prof. Zacharowski.

Anämie-Behandlung vor OPs können Risiko drastisch senken

Ein wichtiger Fortschritt in Sachen Patientensicherheit wäre auch über Konzepte des Patient Blood Management zu erreichen. Ein Beispiel: Unter Anämie leidet jeder vierte Mensch, fast die Hälfte dieser Mangelzustände rührt von Eisenmangel. Was noch zu wenigen klar ist: Menschen, die schon präoperativ unter Blutarmut leiden, haben ein sehr viel höheres Operationsrisiko. So ist etwa bei nicht-herzchirurgischen Eingriffen in dieser Patientengruppe das Risiko für Infektionen nahezu um das Doppelte, für Nierenschädigungen um das Vierfache erhöht. Zudem brauchen anämische Patienten fünfmal mehr Bluttransfusionen – das ist nicht nur aufwändig, es ist auch nicht frei von Risiken. Bei großen Eingriffen wie dem Einsetzen eines künstlichen Knie- oder Hüftgelenks, bei denen es zu hohem Blutverlust kommt, haben Patienten mit einer leichten Anämie ein 5-faches Sterblichkeitsrisiko. Bei schwerer Blutarmut steigt das Risiko sogar auf das 13-fache! „Ungeachtet all dieser Tatsachen gibt es für den Risikofaktor Anämie viel zu wenig Problembewusstsein. Das möchten wir von der European Society of Anaesthesiology auf europäischer Ebene ändern. Eisenmangel und Anämie müssen auf jeden Fall noch vor dem Eingriff diagnostiziert und behandelt werden“, betont Prof. Zacharowski.

Trend zur ambulanten Anästhesie: Tagesklinische Eingriffe in 10 Jahren verdreifacht

Ein weiteres Kongressthema: Die rasante Zunahme von tagesklinischen und ambulanten chirurgischen Eingriffen, mit der das Instrumentarium der ambulanten Anästhesie an Bedeutung gewinnt. Wie Zahlen der Statistik Austria bestätigen, haben sich chirurgische Aufenthalte ohne anschließende Übernachtung in Österreich in den letzten zehn Jahren fast verdreifacht: Sie stiegen von 93.581 im Jahr 2007 auf 264.200 im Jahr 2017. Fast die Hälfte der tagesklinisch durchgeführten Eingriffe entfällt dabei auf Augen-Operationen, der Rest teilt sich auf viele andere Bereiche und ein äußerst heterogenes Patientenkollektiv auf – vom Säugling bis zu älteren Personen mit Begleiterkrankungen. „Der Grund für diese Zunahme sind innovative Operationstechniken“, erklärt ao. Univ.-Prof. Dr. Anette-Marie Schultz, Universitätsklinik für Anästhesie, Allgemeine Intensivmedizin und Schmerztherapie, Medizinische Universität Wien/AKH Wien, Vorstandsmitglied der ÖGARI und Council Member für Österreich in der Europäischen Anästhesiegesellschaft (ESA): „In vielen chirurgischen Fachdisziplinen ersetzen minimal invasive Interventionen zunehmend aufwändige chirurgische Eingriffe mit großen Schnitten. Ein Beispiel von vielen ist die Ablation oder Verschorfung von Lebermetastasen oder Lebertumoren in der interventionellen Radiologie. Dafür war früher eine große OP am offenen Bauch nötig, selbstverständlich unter Vollnarkose. Heute ist ein solcher Eingriff ambulant möglich, minimal-invasiv und unter Sedierung.“ Für Patientinnen und Patienten ist das höchst vorteilhaft: Sie haben ein deutlich geringeres Operationsrisiko, maximal kurze bis keine stationäre Krankenhausaufenthalte und eine schnellere Rehabilitationszeit – mit all den positiven Konsequenzen für ihr Berufs- und Alltagsleben.

Mehr Ressourcen für Patienten mit komplexen Eingriffen

Ambulantes Operieren und ambulante Anästhesie bedeuten dann einen großen Fortschritt für die Patientensicherheit, wenn sie beim jeweils geeigneten Eingriff und dem aufgrund der Gesamtumstände geeigneten Patienten eingesetzt werden. Insgesamt ist ambulante Anästhesie kosteneffizient und kann so auch indirekt zu mehr Patientensicherheit beitragen: „Die Gruppe der älteren Patienten, die immer komplexere Eingriffe bekommt, zum Beispiel in der Orthopädie und Kardiologie, wächst stark und hat hohen Betreuungsbedarf. Wenn wir durch mehr tagesklinische Eingriffe weniger stationäre Ressourcen verbrauchen, haben wir genau für diese besonders sensible Gruppe mehr Kapazitäten frei – und das ist sehr wichtig“, so Prof. Schultz.

Nachwuchsförderung in der Anästhesie: Optimale Ausbildung für hohe Patientensicherheit

Nicht nur in Österreich, auch in vielen anderen Ländern gibt es große Anstrengungen, um junge Ärztinnen und Ärzte für eine Ausbildung im Fach Anästhesie und Intensivmedizin zu begeistern und ihnen, wenn sie sich dafür entscheiden, eine sehr fundierte Ausbildung zu vermitteln, berichtet Prim. Priv.-Doz. Dr. Anette Severing, EDAIC, Leiterin der Abteilung für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Eisenstadt, Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI) und Vertreterin der ÖGARI im National Anaesthesiologists Societies Committee der ESA. „Dies alles steht im Zeichen, für unsere Patienten weiterhin eine qualitätsvolle und ausreichende Versorgung gewährleisten zu können. Die Herausforderungen sind groß: Unser an sich schon dynamisches Fach revolutioniert sich aktuell regelrecht. Wir müssen also jungen Medizinerinnen und Medizinern in der relativ kurzen Zeit ihrer Facharztausbildung all das vermitteln, was nötig ist, um State of the Art und im Sinne maximaler Patientensicherheit zu handeln.“ Was muss europaweit passieren, damit uns nicht die Anästhesistinnen und Anästhesisten ausgehen? „Zuallererst müssen wir für ausreichend Ausbildungsstellen sorgen – sonst steuern wir in absehbarer Zeit auf einen veritablen Versorgungsengpass zu. Und das passt mit Patientensicherheit ganz und gar nicht zusammen“, hält Prim. Severing fest. Außerdem müsse man die Ausbildung möglichst attraktiv gestaltet, die Ausbildungswege in Österreich überregional einheitlich festlegen. „Ausbildung muss eine definierte Aufgabe in der Abteilung sein, und es muss klare Verantwortlichkeiten dafür geben. ‚Learning on the job‘ ist zu wenig“, betont Prim. Severing. Zudem brauche es die Möglichkeit, die eigene Tätigkeit und die Entscheidungen erfahrener Kolleginnen und Kollegen zu reflektieren. Bewährt haben sich in diesem Zusammenhang Mentoring-Konzepte und Ausbildungsteams, die Assistentinnen und Assistenten fit für den Beruf machen. Neben fachlich-medizinischem Know-how muss der medizinische Nachwuchs auch lernen, mit Belastungen und Stress zurechtzukommen, und sich selbst gut zu organisieren. „Nur dann agiert man Ärztin oder Arzt sicher. Nicht umsonst gibt es auf dem Kongress eine Reihe von Sitzungen, die sich mit dem Burnout-Risiko von Anästhesisten auseinandersetzen“, so Prim. Severing. Schließlich muss auch die Fertigkeit einer klaren, unmissverständlichen Kommunikation in der Ausbildung vermittelt und laufend trainiert werden. „In kaum einem anderen Fach spielt die Kommunikation für die Patientensicherheit eine so zentrale Rolle – egal, ob man als Notarzt im Einsatz ist, im OP, in einer Intensiv- oder Palliativstation“, schließt Prim. Severing.