Von Prim. Univ.-Prof. Dr. Walter Hasibeder

Die neuen Corona-Viren

Seit kurzem beunruhigt uns eine neue SARS-CoV-2 Variante, die allgemein als „Englische- oder UK-Variante“ bezeichnet wird. Nach bisherigen Erkenntnissen ist dieses Virus deutlich infektiöser verglichen mit dem ursprünglichen „wild-Typ“-Virus aus Wuhan. Prinzipiell muss an dieser Stelle aber angemerkt werden, dass RNA-Viren meist sehr hohe Mutationsraten haben, was bedeutet, dass bei der intrazellulären Vermehrung des genetischen Viruscodes regelmäßig „Abschreibfehler“ auftreten. Mit anderen Worten: Virusproteine können an verschiedenen Stellen einen Austausch von oder eine Substitution mit neuen Aminosäuren erfahren. Das kann die Viruseigenschaften ganz erheblich verändern. Sehr häufig schwächen Mutationen ein Virus, sodass es z.B. weniger infektiös oder weniger krank machend wirkt und schließlich aus der Wirtpopulation sogar verschwinden kann. Manche Viren schaffen immer wieder den Sprung auf eine andere Spezies, z.B. zwischen Tieren oder vom Menschen auf Tiere und umgekehrt. Dieser „Spillover“ kann für das Virus durchaus vorteilhaft sein. Verschiedene Virusvarianten des gleichen Virusstammes sind sogar in der Lage, in einem neuen Wirt beziehungsweise in gleichzeitig infizierten Zellen genetisches Material „auszutauschen“ und so oft gestärkt wieder auf eine neue Spezies, wie den Menschen, überzuspringen. Beim Influenza-Virus fungieren z.B.  Schweine, aber auch Geflügelarten, in der Massentierhaltung als sogenannte „Mixing Vessels“, in denen neue Virusvarianten mit höherer Infektiosität und durchaus auch Pathogenität entstehen können.

Im Vergleich mit anderen RNA-Viren treten Spontanmutationen bei Corona Viren aber eher seltener auf. Grund dafür ist das Vorhandensein eines Enzyms, das zumindest kleinere Abschreibfehler im genetischen Code, korrigieren kann. Das Schicksal von Mutationen hängt letztlich davon ab, welche evolutionären Vorteile in den Bereichen Infektiosität und Pathogenität damit einhergehen. Eine Steigerung der Infektiosität ohne besondere Steigerung der Erkrankungsschwere wird meist vorteilhaft für die Ausbreitung einer Virusspezies oder Variante sein – mit der Infektion von mehr Wirtsorganismen kann sich das Virus rascher replizieren und verbreiten. Hingegen ist die Steigerung der Pathogenität, womöglich mit deutlicher Erhöhung der Sterberate, eher als Nachteil zu sehen. Ein rasches Versterben der Wirtsorganismen verhindert in Extremfällen eine weitere Ausbreitung der Erkrankung – kein Wirt bedeutet, dass keine Replikationsmöglichkeit mehr vorhanden ist. 

B 1.1.7: Diese neue Virusvariante zeigt eine Veränderung des Spikeproteins an der Stelle D614G. Die Aminosäure Glycin wurde an dieser Stelle durch Asparaginsäure ersetzt.  Dieser neue Virusstamm zeigt eine um 35 bis 60 Prozent höhere Infektiosität als der wild-Typ. Genaue, wissenschaftlich haltbare und verbindliche Zahlen zur Infektiosität gibt es meines Wissens noch nicht. Erstmals wurde diese Mutation im März 2020 beschrieben und ist wahrscheinlich an mehreren Orten, weltweit und voneinander unabhängig, aufgetreten. Die höhere Infektiosität verändert einerseits die Reproduktionszahl des Virus, d.h. ein Virusträger kann deutlich mehr Gesunde anstecken. Andererseits wird die Anzahl der Menschen, die z.B. geimpft werden müssen, um „Herdenimmunität“ zu erreichen, deutlich erhöht. Derzeit wird davon ausgegangen, dass Erkrankungsverläufe durch B 1.1.7 nicht schwerer verlaufen als durch den wild-Typ. Durch die hohe Infektiosität kann allerdings, bei fehlender Einhaltung der Schutzmaßnahmen, mit einer deutlichen Zunahme Schwererkrankter und einer möglichen Überforderung des Gesundheitssystems gerechnet werden. Dies erklärt die derzeitig verschärften Lockdown-Maßnahmen (FFP-2 Maskenpflicht, größere Abstandsregeln) und die Europa-weiten politischen Bemühungen, in möglichst kurzer Zeit möglichst große Risikopopulationen zu Impfen.

N453Y: Im Frühsommer 2020 wurden SARS-CoV-2 -Infektionen in Nerzen, die in Farmen in Holland und Dänemark vorwiegend für den Export in Osteuropäische Staaten gezüchtet werden, gehäuft beobachtet. Infektionsübertragungen zwischen Mensch und Nerzen sowie zwischen Nerzen und vom Nerz auf den Menschen konnten vereinzelt nachgewiesen werden. Eine Mutation im Spikeprotein, die als Y453F bezeichnet wurde, erleichtert wahrscheinlich die Virusbindung an den tierischen ACE2 Rezeptor. Mittlerweile wurden dreiweitere Mutationen des Virus in Nerzen nachgewiesen. Der Hauptgrund für die Massenschlachtungen von Nerzen in den vergangenen Monaten war die Befürchtung, dass es in diesem Tierreservoir rascher zu möglicherweise für den Menschen gefährlichen Virusmutationen kommen kann.   

Weitere Virusmutanten: Mittlerweile gibt es mehrere Weiterentwicklungen der B1.1.7 Virusmutanten mit mehrfachen Veränderungen hauptsächlich am Spikeprotein – andere Bereiche des genetischen Codes wurden bis jetzt auch zu wenig untersucht. Alle diese Mutationen haben möglicherweise Einfluss auf die Infektiosität der Viren. Die 501Y Spikevariante scheint eine höhere Affinität für den menschlichen ACE2 Rezeptor zu besitzen. Diese Variante breitet sich derzeit sehr rasch in Südafrika aus. Die südafrikanische Coronavirus-Variante 501Y.V2 (auch als B.1.351 bekannt) könnte sich womöglich stärker ausbreiten als die in Europa bisher verbreitete SARS-CoV-2-Varianten. Sie ist mittlerweile in zahlreichen Ländern, auch in Österreich und Deutschland, nachgewiesen worden. Sie zeichnet sich unter anderem durch mehrere Mutationen am Spikeprotein aus.

Der Oxford Astra Zeneca Impfstoff: Eine Zwischenbilanz

Der Impfstoff AZD1222 oder ChAdOx1 nCoV-19 verwendet einen Schimpansen-Adenovirus, um Virusantigen – auch hier geht es um das Spikeprotein des Virus – in Zellen des menschlichen Immunsystems zu transportieren. In einer Phase-II-Studie wurde die Sicherheit und Immunogenität des Impfstoffs untersucht (Lancet 2020; doi: 10.1016/S0140-6736(20)32466-1).  Dabei wurde einmal eine niedrige inaktivierte Virusdosis oder eine etwas höhere Standarddosis entweder einmalig oder mit einer zweiten Boost-Dosis nach 28 Tagen verimpft. Als Kontrolle diente eine Impfung mit einem zugelassenen Meningokokken-Impfstoff. 560 Patientinnen und Patienten wurden nach Altersgruppen (18-55 Jahre; 56-69 Jahre; > 70 Jahre) eingeteilt. Die häufigsten lokalen Impfreaktionen waren geringe bis mäßige Schmerzen am Injektionsort. Systemische Nebenwirkungen wie kurzeitiges Krankheitsgefühl, leichtes Fieber, Kopf- und/oder Muskelschmerzen wurden von 86 Prozent der Geimpften berichtet

Mit zunehmendem Alter traten sowohl lokale als auch systemische Nebenwirkungen seltener auf. Die Antikörperentwicklung (Anti Spike IgG AK) war nach 28 Tagen ähnlich in der Niederdosis- und Normaldosisgruppe. Die Antikörperbildung war bei älteren Personen erwartungsgemäß etwas weniger ausgeprägt. Nach der Boost-Impfung hingegen war die weitere Antikörperbildung in allen Altersgruppen gleich stark ausgeprägt, unabhängig von der erhaltenen Dosis. 14 Tage nach der zweiten Impfung hatten mehr als 99 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer neutralisierende IgG-Antikörper gegen das Spikeprotein gebildet. Die zelluläre Immunantwort auf die Impfung (T-Zellen) zeigte ihren Höhepunkt bereits nach 14 Tagen.

In einer weiteren Publikation von vier randomisierten, kontrollierten Studien mit insgesamt 11.636 Teilnehmerinnen und Teilnehmern wurden in der Vakzin-Gruppe 30 symptomatische COVID-19 Erkrankungen nach der zweiten Impfdosis berichtet, während in der Kontrollgruppe 101 Erkrankungen auftraten (Lancet 2020; doi:10.1016/s0140-6736(20)32661-1). Die Schutzwirkung des Impfstoffs betrug somit 70,5 Prozent. Interessanterweise war der Schutzeffekt deutlich verstärkt, wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zunächst eine niedrige Impfdosis und 28 Tage später eine Standarddosis erhielten. In diesem speziellen Setting betrug der Impfschutz 90 Prozent! Im Nachhinein stellte sich heraus, dass diese Kombination eigentlich per Zufall und nicht primär geplant verabreicht wurde. Der Astra-Zeneca-Impfstoff sollte demnächst innerhalb der EU verfügbar sein. Weitere Berichte zu diesem Impfstoff folgen.

Rekonvaleszentenplasma und COVID-19: Theoretisch sinnvoll, praktisch von geringem Nutzen

Rekonvaleszentenserum (RS) mit seinen polyklonalen Antikörpern gegen mehrere Antigenstrukturen des SARS-CoV-2 Virus wird aus dem Blutplasma von Patientinnen und Patienten gewonnen, die eine aktive Infektion mit dem Virus überstanden haben. Bisherige Untersuchungen über die Wirksamkeit von RS in der Behandlung der COVID-19-Erkrankungen konnten nicht überzeugen. In einer randomisierten, kontrollierten offenen Studie wurde RS zur Behandlung von moderat an COVID-19 Erkrankten (PaO2/FIO2 = 200-300 oder Atemfrequenz > 24/Min und SaO2 bei Raumluft < 93%) an 463 Patientinnen und Patienten in 39 Krankenhäusern untersucht (BMJ 2020; doi: 10.1136/bmj.m3939).

235 Patientinnen und Patienten erhielten 200ml RS im Abstand von 24 Stunden. Neutralisierende Antikörper waren bei 82 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei Studienaufnahme bereits vorhanden. Es wurden keine Unterschiede in der Zahl der Patientinnen und Patienten, die eine Zunahme der Symptomatik entwickelten und keine Änderungen der 28 Tage Sterblichkeit zwischen den Gruppen beobachtet. Allerdings waren die IG-G Antikörpertiter (> 1:40), gegen das SARS-CoV-2 Spike Antigen im RS relativ gering.

Zu einem ganz anderen Ergebnis kommt eine argentinische Arbeitsgruppe, die 250ml RS mit sehr hohen AK-Titern (> 1:1000), 160 Patientinnen und Patienten (> 75 Jahre oder > 65 Jahre und > 1 Vorerkrankung) innerhalb von 73 Stunden nach Symptombeginn iv. verabreicht hat (NEJM 2021; doi: 10.1056/NEJMoa2033700). Eine Kontrollgruppe erhielt dieselbe Flüssigkeitsmenge als Kochsalzlösung. 13 von 80 Patientinnen und Patienten (16 Prozent) nach RS-Infusion und 25 von 80 (25 Prozent) nach Kochsalzinfusion entwickelten ein schweres Lungenversagen (absolute Risikoreduktion = 9 Prozent!). Jeweils 2 Patientinnen bzw. Pateinten in beiden Gruppen verstarben. Eine Infusion von RS war von keinerlei Nebenwirkungen begleitet. Im Gegensatz zu früheren Studien mit RS wurde hier nur Plasma mit ausgewählt hohen IG-G AK Titern gegen das Spikeprotein infundiert. Das bedeutet einen erheblichen Laboraufwand und die Suche nach geeigneten Plasmaspenderinnen und -spendern, um diese aufwendige Therapie anbieten zu können. Es kann zu Recht bezweifelt werden, dass eine derartige Therapie bei Risikogruppen breit eingesetzt werden kann.

Monoklonale Antikörper in der Frühbehandlung der COVID-19-Erkrankung

Kürzlich wurde die Interimsanalyse einer Untersuchung des Einsatzes von zwei experimentellen monoklonalen Antikörpern, Casirivimab und Imdevimab, in der Frühphase einer SARS-CoV-2-Infektion publiziert (NEJM 2021; 384:238-251). Beide Antikörper werden als Cocktail (REGN-COV2) verabreicht. Patientinnen und Patienten wurden innerhalb von sieben Tagen nach Symptombeginn oder innerhalb von 72 Stunden nach positiver PCR-Testung in die Studie inkludiert. REGN-COV2 wurde randomisiert in zwei Dosierungen (2,4g oder 8g) verabreicht, eine Kontrollgruppe erhielt Kochsalzlösung. 275 Patientinnen und Patienten zeigten innerhalb der ersten sieben Tage nach der Infusion der Antikörper im Vergleich zur Kontrollgruppe eine deutlich raschere Verminderung der Viruslast im Nasenrachenraum. Signifikant weniger Patientinnen und Patienten in den AK-Gruppen benötigten innerhalb von 29 Tagen nach Studieninklusion wegen Symptomen einer COVID-19-Erkrankung ärztliche Hilfe.

Ähnliche Ergebnisse werden über den monoklonalen Antikörper Bamlanivimab (LY-CoV555) in einer Studie an 452 ambulanten Patientinnen und Patienten mit COVID-19 berichtet (NEJM 2021;384:229-237). Innerhalb von vier Tagen nach Symptombeginn erhielten 309 Patientinnen und Patienten den Antikörper in jeweils drei verschiedenen Dosierungen (700mg; 2800mg; 7000mg). 143 Erkrankte erhielten eine Placebo-Infusion. In den Bamlanivimab-Gruppen war die virale Clearance, gemessen als quantitative PCR auf SARS-CoV-2, nach drei Tagen signifikant höher als in der Placebo-Gruppe. Bamlanivimab-Patientinnen und -Patienten entwickelten weniger häufig COVID-19-Symptome. Bis zum 29. Beobachtungstag wurden 1,6 Prozent der Personen in der Bamlanivimab-Gruppe wegen zunehmender COVID-19 Symptomatik hospitalisiert – versus 6,3 Prozent der Kontrollgruppe.

Auch wenn diese Ergebnisse zunächst einmal sehr vielversprechend klingen mögen, ist Vorsicht bei der Interpretation, vor allem bezüglich einer breiten praktischen Anwendung, geboten. Die in die Studien eingeschlossenen Patientinnen und Patienten hatten bei Studienbeginn keine oder nur leichte Symptome. Es kann daher nicht auf eine Wirksamkeit der Therapien bei schwer Erkrankten geschlossen werden. Weiters führt die breite Anwendung monoklonaler Antikörper gegen einzelne Antigenstrukturen des Spikeproteins einen möglicherweise unerwünscht hohen Selektionsdrucks auf das SARS-CoV-2 Virus aus. Letzterer fördert die Entwicklung neuer Mutanten mit möglichen gefährlichen Resistenzen gegen synthetische und vielleicht auch natürliche Antikörper.

Andererseits wäre eine monoklonale Antikörper-Therapie eine Alternative zur Impfung bei Hochrisikopatientinnen und -patienten mit SARS-CoV-2-Exposition, die entweder nicht geimpft werden können (z.B. bekannte Anaphylaxie-Reaktion auf Adjuvantien) oder die noch keine Impfung erhalten haben. Voraussetzung ist natürlich eine möglichst zeitnahe Verabreichung zum Infektionsgeschehen. Beide Antikörper-Präparationen, REGN-CoV2 und Bamlanivimab, wurden in den USA von der FDA mittlerweile als sogenannte „Emergency Use Authorization“-Therapie zugelassen. Zahlreiche Pharmafirmen arbeiten an weiteren monoklonalen Antikörper-Präparationen und künftige Studien werden den Wert dieser „passiven“ Immunisierungstherapie auf den Erkrankungsverlauf klären.   

Tocillizumab und Mortalität: Ein zweischneidiges Schwert

Tocillizumab, ein Interleukon-6-Rezeptor-Antagonist, wurde in mehreren Studien zur Behandlung des „Zytokinsturms“ bei besonders schwer erkrankten hospitalisierten COVID-19-Patientinnen und -Patienten eingesetzt. Die bisherigen Ergebnisse waren sehr gemischt – beginnend mit der Beobachtung keines Effekts bis zu einer nachweisbaren Mortalitätssenkung. Eine neue Studie an 130 kritisch kranken COVID-19-Patientinnen und -Patienten zeigt möglicherweise gravierende Sicherheitsprobleme bei Verabreichung dieses Medikaments auf (BMJ 2021; 372: n84). Inkludiert wurden Patientinnen und Patienten mit nachgewiesener COVID-19-Erkrankung mit Notwendigkeit einer Sauerstofftherapie oder von mechanischen Atemhilfen und mindestens zwei abnormen Serumbiomarkern (CRP; D-Dimer; LDH; Ferritin). Tocillizumab wurde als Einzelinfusion, 8mg/kg Körpergewicht, einmalig verabreicht.

Die Sterberate von Patientinnen und Patienten, welche neben einer „üblichen“ Therapie auch  Tocillizumab erhielten, war am 15. Tag nach Hospitalisierung mit 17 Prozent deutlich gegenüber Patientinnen und Patienten ohne Antikörper-Therapie (3 Prozent) erhöht. Mit anderen Worte: Das Sterberisiko war am 15. Tag in der Tocillizumab-Gruppe um das 6,5-fache erhöht! 43 Prozent der Patientinnen und Patienten unter Tocillizumab entwickelten zumindest eine unerwünschte Nebenwirkung – in der Kontrollgruppe waren es 34 Prozent. Interessanterweise verschwand dieser Mortalitätseffekt bis zum 29. Tag nach der Aufnahme. Die Studie zeigt wieder einmal, dass wir den „heiligen Gral“ der COVID-19-Therapie möglicherweise niemals finden werden.

Die Vorstellung, dass das Drehen an einem pathophysiologischen Rädchen im komplexen Geschehen eines Krankheitsverlaufs alles verbessern kann, ist schlechthin als naiv zu werten! Persönlich denke ich, dass letztlich nur die aktive Immunisierung durch Impfungen den Schrecken von COVID-19 beseitigen wird. Wir haben auch bei invasiv beatmeten Patientinnen und Patienten mit einer wahren Explosion der IL-6-Plasmakonzentrationen vereinzelt Tocillizumab, in gleicher Dosierung, als Stoßtherapie verabreicht, ohne in den darauffolgenden Tagen irgendwelche positiven klinischen Effekte zu beobachten. Derzeit beschränken wir uns auf eine solide „konservative“ Intensivtherapie mit Organ-unterstützenden und Organ-ersetzenden medikamentösen und maschinellen Verfahren. Eine Steroidtherapie wird bei uns bei allen hospitalisierten Patientinnen und Patienten mit Oxygenierungsproblemen und/oder pulmonalen Infiltraten bereits auf den „Normalstationen“ (=Isolationsstationen) durchgeführt. Wir haben in der zweiten Welle der Pandemie den Eindruck gewonnen, dass durch diese Therapie Patientinnen und Patienten weniger oft einen schweren Verlauf erleiden, der zur Aufnahme auf unserer interdisziplinären Intensivstation führt.   

Absetzen von ACEII-Rezeptorblockern oder Angiotensin-Converting-Enzym-Hemmern hat keinen Einfluss auf den Verlauf einer COVID-19-Erkrankung

Angiotensin-Converting-Enzym II-Rezeptor-Blocker (ARBs) und  Angiotensin-Converting-Enzym-Hemmer (ACEIs) führen in präklinischen Untersuchungen längerfristig zu einer Hochregulierung von  Angiotensin II-Rezeptoren an unterschiedlichen Zielzellen im menschlichen Körper. Dies führte zur Befürchtung, dass die häufig verwendeten ARBs und ACEIs Erkrankungen mit dem SARS-CoV-2 Virus durch eine Vermehrung von viralen Angriffsstrukturen an menschlichen Gewebe erleichtern und den Erkrankungsverlauf negativ beeinflussen können.

In einer randomisierten klinischen Studie mit insgesamt 659 an COVID-19 erkrankten Teilnehmerinnen und Teilnehmern wurden die Effekte einer Unterbrechung dieser Herzkreislaufmedikationen versus einer Weiterführung auf den Erkrankungsverlauf untersucht (JAMA 2021;352:254-264). Die primäre Outcome-Variable von Interesse war das Überleben bis zum 30. Tag. Sekundäre OutcomeVvariablen waren Veränderungen in der Schwere der COVID-19 -rkrankung und die Häufigkeit von kardiovaskulär bedingten Todesfällen.

Das Median-Alter der Teilnehmerinnen und Teilnehmer in der Studie betrug 65 Jahre. Knapp mehr als die Hälfte der Patientinnen und Patienten wurden bei der Krankenhausaufnahme als zunächst milde COVID-19-Erkrankung definiert. Es wurden keinerlei Unterschiede im Erkrankungsverlauf und der Sterberate zwischen den beiden Gruppen beobachtet. Die Notwendigkeit zur Intubation und Beatmung ergab sich bei 9,6 Prozent der Patientinnen und Patienten in der Gruppe ohne ARBs und ACEIs und bei 7,7 Prozent bei Weiterführung der Herzkreislaufmedikation. Ein akuter Myokardinfarkt trat in 7,5 Prozent nach Absetzten und in 4,6 Prozent bei Weiterführung der Therapie mit ARBs und ACEIs auf.

Schon in der Vergangenheit haben nationale und internationale wissenschaftliche kardiologischen Gesellschaften darauf hingewiesen, dass eine Therapie mit ARBs und ACEIs auch bei einer COVID-19-Erkrankung nicht abgesetzt werden sollte. Die vorliegende Untersuchung bestätigt, gemeinsam mit früheren vorwiegend retrospektiven Datenanalysen, diese Empfehlungen. 

Das Long-COVID-Syndrom nach Hospitalisierung wegen COVID-19

Eine chinesische Untersuchung berichtet über die Langzeitkonsequenzen einer COVID-19-Erkrankung, die zur Aufnahme in einem Krankenhaus geführt hat (Lancet 2021;397:220-232). Insgesamt konnten die Daten von 1.733 ehemals hospitalisierten Patientinnen und Patienten ausgewertet werden. 76 Prozent aller Betroffenen gaben nach sechs Monaten zumindest ein persistierendes Symptom an. Am häufigsten wurden rasche Erschöpfbarkeit, Muskelschwäche und Schlafstörungen beobachtet. Frauen waren häufiger von chronischen Beschwerden betroffen als Männer. 23 Prozent der Untersuchten litten an Depressionen.

Vor allem bei Patientinnen und Patienten mit schwerer Pneumonie zeigten sich in Nachuntersuchungen Sauerstoffdiffusionsstörungen und strukturelle Veränderungen des Lungengewebes in der CT-Untersuchung. Bei diesen Personen war die verminderte Belastbarkeit auch einem sechsminütigen Geh-Test nachweisbar. Die Autorinnen und Autoren haben im Rahmen dieser Untersuchung auch mehrfach Antikörperbestimmungen gegen Strukturen des SARS-CoV-2-Virus (N-IgM; RBD-IgM; S-IgM; N-IgA; S-IgA und RBD-IgG) durchgeführt. Über sechs Monate kam es bei einem Großteil der Patientinnen und Patienten zu einem deutlichen Abfall neutralisierender Antikörper. Die Autoren schließen daraus, dass ein Risiko für Reinfektionen bei den Betroffenen gegeben ist.

Die Studie zeigt einmal mehr, wie gravierend die Langzeitfolgen einer COVID-19-Erkrankung sein können. Generell versteht man unter einem „Long-COVID-Syndrom“ derzeit das Persistieren von Symptomen über 28 Tage hinaus. Viele der betroffenen Patientinnen und Patienten benötigen rezidivierend Krankenstandstage und manche werden in die Dauerarbeitslosigkeit und möglicherweise in die Armut schlittern. Die gesundheitlichen und sozialen Konsequenzen für Betroffene sind enorm und der damit einhergehende wirtschaftliche Schaden unermesslich. Was derzeit noch nicht bekannt ist, ist das Risiko für den Erwerb anderer schwerer Infektionen nach einer abgelaufenen COVID-19-Erkrankung. Bei anderen schweren Infektionskrankheiten wie z.B. einer schweren Influenzaerkrankung, einer Masernerkrankung oder auch einer durchgemachten Pneumokokkenpneumonie ist das zukünftige Risiko einer erneuten schweren Infektion, auch mit anderen Krankheitserregern, deutlich gesteigert. Dieses erhöhte Risiko geht auch mit einem höheren Sterberisiko im Vergleich mit einer „Normalpopulation“ einher.  Es würde mich deshalb wirklich nicht wundern, wenn eine durchgemachte COVID-19-Erkrankung ähnliche Konsequenzen nach sich zieht.