Mit der aktuellen Corona-Pandemie gerät die Betreuung von Menschen mit chronischen Schmerzen zur besonderen Herausforderung. Welche ethischen Überlegungen sollten dabei maßgeblich sein?

Alle, die mit Schmerzmedizin zu tun haben, kennen das Dilemma: Schmerz kennt keinen Lockdown. Chronische Schmerzpatientinnen und -patienten brauchen eine kontinuierliche Versorgung. Gleichzeitig soll alles unternommen werden, um die Pandemie einzudämmen, Personal in Gesundheitseinrichtungen zu schützen und medizinische Kapazitäten freizuhalten.

Der Medizinethiker Larry C. Driver (Department of Pain Medicine, The University of Texas MD Anderson Cancer Center, Houston, Texas) fasste in einem Artikel die ethischen Grundlagen zusammen, die es Schmerzmedizinern erleichtern sollen, in Pandemiezeiten die richtigen Entscheidungen zu treffen:

Individuelle Schmerzbehandlung und Schutz der Allgemeinheit

  • Abwägen: Schmerzmedizinerinnen und Schmerzmediziner sollten bei ihren Entscheidungen die Bedürfnisse des individuellen Patienten und die Bedürfnisse des Gesundheitssystems und der Gesellschaft ausgewogen berücksichtigen.
  • Mittel optimal nutzen: Ziel der Schmerzmediziner muss es sein, den Patientinnen und Patienten sichere und zeitnahe Schmerzversorgung zu bieten und gleichzeitig die Mittel optimal nutzen, die zur Bewältigung der Pandemie zur Verfügung stehen – etwa Spitals- und Intensivbetten, Ausrüstungen zum persönlichen Schutz oder Beatmungsgeräte.
  • Laufend informieren: Lokale und gesamtstaatliche Richtlinien und Regulierungen wirken sich stark auf ärztliche Praxis und Patienten aus. Schmerzmedizinerinnen und -mediziner müssen sich diesbezüglich auf dem Laufenden halten, zumal das Wissen über die Pandemie ständig wächst und die entsprechenden Regelungen immer wieder angepasst werden.

Welche Behandlung zu welcher Zeit?

In manchen Fällen sollten Schmerzmediziner den Patientinnen und Patienten erklären, dass es notwendig ist, bestimmte Behandlungen auf das Ende der Krise zu verschieben.

Um Entzugserscheinungen und andere potenzielle Nebenwirkungen zu vermeiden, muss jedoch sichergestellt sein, dass eine laufende medikamentöse Schmerztherapie nicht ab- oder unterbrochen wird. Die Schmerzkontrolle im Rahmen der Pharmakotherapie muss erhalten bleiben.

Schlüsselfrage: Haben Behandlung oder Nicht-Behandlung ernste medizinische Folgen?

Dr. Driver empfiehlt, sich immer eine zentrale Grundsatzfrage zu stellen: Hat die Durchführung einer schmerztherapeutischen Maßnahme während der Pandemie ernste nachteilige medizinische Folgen? Oder wirkt es sich andererseits negativ auf den Patienten oder die Patientin aus, wenn sie nicht durchgeführt oder verschoben wird?

Falls auch unter normalen Umständen ein paar Wochen zugewartet wird, ehe eine bestimmte Behandlung für einen Patienten in Frage kommt, so wird das zumeist auch in der Krisenzeit die richtige Vorgangsweise sein.

Welche Maßnahmen dürfen nicht verschoben werden?

Als dringende Maßnahmen, die auch in der Krise keinesfalls verschoben werden sollten, nennt Dr. Driver hingegen:

  • neurolytische Nervenblockaden (Injektionen) für refraktorische oder therapierefraktäre Schmerzen bei fortgeschrittener Krebserkrankung,
  • vertebrale Augmentation zur Linderung akuter Schmerzen und zur Vermeidung potenziell lebensbedrohlicher Folgen von Immobilität,
  • interventionelle Behandlung von CRPS,um Schmerzen zu lindern und mögliche Langzeitbehinderungen zu vermindern.

Vorgangsweise sorgfältig dokumentieren

Wird eine Schmerztherapie fortgesetzt, sollte klar dokumentiert werden, warum diese Entscheidung getroffen wurde. Dazu sollte die relevante Fachliteratur und die entsprechenden Guidelines angeführt werden. Wird in einer Fallbesprechung mit Kolleginnen und Kollegen ein Expertenkonsens erzielt, sollte das ebenfalls als Argument für die Fortführung der Behandlung festgehalten werden.

Wichtig ist auch eine Dokumentation darüber, warum bestimmte Maßnahmen notwendig sind. Das gilt beispielsweise für Rückenmarksinfusionstherapien (mit Baclofen oder Opioiden) oder das Entfernen von implantierten neuromodulierenden Geräten.

Persönliche Kontakte einschränken

Persönliche Kontakte sollten minimiert werden – zur Verringerung der Übertragungsrisiken und für die bestmögliche Nutzung der Schutzeinrichtungen. Um die Anzahl der Personen zu verringern, die zugleich in Praxis oder Klinik anwesend sind, sollte das Termin- und Wartezimmermanagement neu geordnet werden. Die ärztliche Beratung von chronischen Schmerzpatientinnen und -patienten kann in vielen Fällen auch via Telemedizin (Telefon oder Internet) fortgeführt werden. Ebenso können Abstimmungen mit Kollegen virtuell erfolgen. Eine Reihe schmerztherapeutischer Maßnahmen im Rahmen einer multimodalen Schmerztherapie ist den Patienten auch zuhause möglich, etwa physische Übungen, Yoga, Ta Chi, Meditation oder Entspannungstechniken. Ärztinnen und Ärzte können informieren, welche Online-Anweisungen die Patienten bei der Durchführung unterstützen.

Service

  • Podcast: Versorgung chronischer Schmerzpatienten in der COVID-19-Krise
    Welche besonderen Herausforderungen bringt die Betreuung von Menschen mit chronischen Schmerzen in der Pandemie-Situation mit sich? Welche Vorgangsweisen sind empfehlenswert? Darüber diskutierten auch die SchmerzspezialistInnen Univ.-Prof. Dr. Rudolf Likar, OA Dr. Waltraud Stromer und Prof. Dr. Michael Ausserwinkler. Das gesamte einstündige Gespräch finden Sie als Podcast unter www.pains.at.