Ein weiterer Literatur-Update: ÖGARI Präsident elect Univ.-Prof. Dr. Walter Hasibeder (Zams) hat für den ÖGARI-Blog neuerlich aus der Vielfalt an aktueller Literatur zu COVID-19 interessante Arbeiten ausgewählt und kommentiert die wichtigsten Ergebnisse.

Effekte von Quarantänemaßnahmen und Schulschließungen in Wuhan und Shanghai

Zhang J et al (Science 2020; doi: 10.1126/science.abb8001) analysierten die Kontaktdaten der Menschen vor und während des SARS-CoV-2 Ausbruchs in Wuhan und Shanghai. Mit Hilfe von Modellberechnungen wurden Szenarien der Erkrankungsausbreitung mit und ohne Quarantänemaßnahmen sowie mit und ohne Schulschließungen während der Pandemie modelliert.  Im Modell wurden die Menschen der betroffenen Regionen in drei Gruppen eingeteilt: Empfindlich, da noch nie mit dem Erreger in Kontakt; infiziert; genesen oder verstorben. Als Inkubationszeit wurde ein Intervall von 5,1 Tagen angenommen. Als basale Reproduktionsrate (R0) zu Beginn der Infektion wurden Werte zwischen 2 und 5 angenommen, ein Erkrankter oder eine Errkrankte infiziert also 2-5 weitere Personen. Ohne Gegenmaßnahmen wie Isolation und Quarantäne wären innerhalb eines Jahres zwischen 53 und 92 Prozent aller Bewohner der untersuchten Städte infiziert gewesen. Die Inzidenz von 92 Prozent Infektionen mit dem SARS-CoV-2 wurde für die Stadt Shanghai berechnet, da hier die Bevölkerungsdichte wesentlich größer ist als in Wuhan. Die Ausbreitung von Infektionen hängt ganz wesentlich von den Faktoren Dichte, Infektiosität, Sterberate und Genesungsquote ab.

Generell lässt sich postulieren, dass es bei von Menschen auf Menschen übertragbaren Erkrankungen eine sogenannte kritische Populationszahl geben muss: Als Beispiel seian dieser Stelle die Masernerkrankung genannt. Damit sich die Masern innerhalb einer Menschenpopulation halten können, ist eine Population von mindestens 500.000 Personen erforderlich. Ohne Impfung wird es bei dieser Populationsgröße immer den nötigen Nachwuchs geben, der noch keine Immunität gegen die Erkrankung besitzt und somit als „neuer Wirt“ für das Virus nützlich ist. Daneben gibt es die Gruppe der Genesenen mit lebenslanger Immunität und Personen, die an der Erkrankung verstorben sind. Die beiden letzten Gruppen kommen als Wirt für das Masernvirus nicht mehr in Frage. Beim SARS-CoV-2 Virus ist die Situation sicher etwas komplizierter , da der primäre Wirt wahrscheinlich eine chinesische Fledermausart ist. Da diese offensichtlich selbst nicht am Virus erkrankt, aber das Virus im primären Wirt überleben kann, wird auch in der Zukunft ein Überspringen des SARS-CoV-2 auf den Menschen möglich sein. Derzeit wird spekuliert, dass dieses „Überspringen“ auf den Menschen über einen Zwischenwirt geschehen ist. Dieser „Zwischenwirt“ kann, bei fehlender Immunität als „Verstärker“ wirken, das bedeutet, dass das Virus sich massiv im Zwischenwirt vermehrt und so leichter auf andere Spezies wie zum Beispiel den Menschen überspringen kann.

In der Modellberechnung lässt sich weiters zeigen, dass eine Abnahme der sozialen Kontakte, wie sie im Rahmen von Schulferien regelmäßig passieren, den R0-Wert auf 1,5 reduziert. Eine Vermeidung jedes Schulkontaktes zwischen Kindern und Jugendlichen würde den Wert weiter von 1,5 auf 1,2 reduzieren. Dies bedeutet, dass zum Beispiel die Schulschließungen in Wuhan und Shanghai alleine zwar nicht in der Lage gewesen wären, die Erkrankung unter Kontrolle zu bekommen, dass aber diese Maßnahmen die Geschwindigkeit der Virusverbreitung deutlich reduziert haben. Durch die zusätzlichen und teils massiven Quarantäneverordnungen wurden die täglichen Sozialkontakte in den betroffenen Regionen um das 7-bis 8fache verringert und zusammen mit den anderen Maßnahmen (Reiseverbot, Schulschließungen) wurde die Reproduktionszahl unter 1 gedrückt und damit die Epidemie erfolgreich eingedämmt.

Zwei weitere Studie zum Nutzen von Hydroxychloroquin bei COVID-19

Geleris J et al. (NEJM 2020; doi: 10.1056/NEJMoa2012410) untersuchten den Effekte einer Hydroxychloroquin-Therapie auf die Notwendigkeit der invasiven mechanischen Beatmung und auf die Mortalität in einer großen Klinik in New York. Während des Beobachtungszeitraums wurden 1.446 Patientinnen und Patienten wegen einer COVID-19 Erkrankung im Krankenhaus aufgenommen. 1.376 konnten in die Studie aufgenommen werden. Patientinnen und Patienten mit und ohne Hydroxychloroquin-Therapie wurden mittels „Propensity Score Analyse“ quasi-randomisiert und in den zwei Outcome-Parametern Notwendigkeit der Intubation und Tod miteinander verglichen. Über einen Zeitraum von 22,5 Tagen starben 166 Patientinnen und Patienten ohne Intubation, weitere 180 mussten intubiert und beatmet werden. 811 Patientinnen und Patienten erhielten Hydroxychloroquin für 5 Tage, 565 Personen bekamen keine antivirale Therapie. Hydroxychloroquin hatte keinen Einfluss auf die Anzahl der Intubationen auf Grund eines schweren ARDS und auch keinen Einfluss auf die Mortalität im Beobachtungszeitraum der Untersuchung. Aus diesem Grund wurde Hydroxychloroquin als Therapieoption im New York Presbyterian Hospital gestrichen.

Rosenberg ES. Et al. (JAMA 2020; doi: 10.1001/jama.2020.8630) berichten in einer retrospektiven Kohortenstudie über ihre Erfahrungen mit Hydroxychloroquin (n=271), Azithromycin (n=211), einer Kombinationstherapie aus beiden Substanzen (n=735) oder keiner spezifischen Therapie (n=221) bei hospitalisierten Erwachsenen mit nachgewiesener COVID-19 Erkrankung. 1.438 Patientinnen und Patienten aus 25 Krankenhäusern in New York wurden analysiert. Der primäre Outcomeparameter der Untersuchung war Tod im Krankenhaus. Sekundäre Outcomeparameter waren Herzstillstände im Krankenhaus und abnorme EKG-Veränderungen. Die Mortalität aller inkludierten Patientinnen und Patienten lag bei 20,3 Prozent. Nach Berücksichtigung der Prämorbiditäten, der Demographie und der Erkrankungsschwere fanden sich keine statistischen Unterschiede in der Sterberate zwischen den Gruppen. Dasselbe Ergebnis wird für die Gruppe der invasiv beatmeten Personen berichtet. EKG Veränderungen und Arrhythmien fanden sich signifikant häufiger bei den Patienten unter Hydroxychloroquin und in der Kombinationsgruppe Hydroxychloroquin + Azithromycin.  Das Risiko, einen Herzstillstand zu erleiden, war in der „Hydroxychloroquin + Azithromycin“ Gruppe doppelt so hoch wie in den anderen Therapiegruppen. In einer Analyse der nicht-beatmeten Patientinnen und Patienten war das Risiko eines Herzstillstandes auch in der Hydroxychloroquin-Gruppe im Vergleich mit der Azithromycin- und der Gruppe ohne spezifische Therapie signifikant erhöht.

COVID-19 bei Kindern und Jugendlichen – Ein systematischer Review

Während bei Erwachsenen zahlreiche Studien zur COVID-19 Erkrankung existieren, fehlen vor allem bei Säuglingen, Kleinkindern und Jugendlichen entsprechende Daten. Diese Lücke versuchen Castegnoli R et al. (JAMA Pediatrics; doi: 10.1001/jamapediatrics.2020.1467) zumindest teilweise zu schließen. Insgesamt verarbeiteten die Autoren die Daten aus 815 Orginalarbeiten mit insgesamt 1.065 hospitalisierten Patientinnen und Patienten. 444 Personen waren unter 10 Jahre alt; 553 waren 10 bis 19 Jahre alt. Die häufigsten Symptome, an denen Kinder und Jugendliche leiden, sind: Fieber, trockener Husten und Müdigkeit gefolgt von Schnupfen. Gastrointestinale Symptome wie Übelkeit, Durchfälle und Erbrechen waren eher selten und wurden vor allem bei Kleinkindern und einem erkrankten Säugling beobachtet. Radiologisch äußert sich die Lungenbeteiligung vor allem als „Verdickung“ bronchialer Strukturen und gelegentlich durch Milchglas-artige Infiltrate. Generell ist die Erkrankungsprognose bei Kindern und Jugendlichen sehr gut. Sie erholen sich meist innerhalb von 1 bis 2 Wochen nach Symptombeginn. Bei der Gruppe der Kinder unter 10 Jahren gab es keinen Todesfall. Allerdings entwickelte ein Säugling im Rahmen der Erkrankung einen septischen Schock mit MODS und Notwendigkeit zur nicht-invasiven Beatmungstherapie, Volumen- und Katecholamintherapie sowie Dialyse. Die meisten erkrankten Kinder benötigten keinen Sauerstoff und keine Form der assistierten oder kontrollierten Beatmungstherapie. Die sonstige Therapie war symptomatisch und beinhaltete, je nach Schwere der Symptomatik, Fieber senkende Maßnahmen, Rehydratation und Antibiotikagaben. Ein Todesfall ereignete sich in der Altersgruppe zwischen 10 und 19 Jahren, wobei medizinische Details zum Patienten fehlen.

Die bisherige Datenlage spricht gegen eine Übertragung des SARS-CoV-2 Virus intrauterin von einer Mutter auf ihr Kind. Auch bei den bisher analysierten Sectiofälle von an COVID-19 erkrankten Müttern gab es keine einzige Infektion durch den Eingriff. Eine postnatale Übertragung von der erkrankten Mutter auf das Neugeborene, zum Beispiel im Rahmen des Stillens, erscheint aber möglich. Hier dürfte der Infektionsweg durch Aerosole und nicht durch die Muttermilch erfolgen. Auch bei SARS-CoV-1 und MERS Erkrankungen konnte bisher keine intrauterine, peripartale oder eine Infektion durch Muttermilch nachgewiesen werden.

Kinder erkranken hauptsächlich durch Kontakt mit erkrankten Elternteilen oder Verwandten. In einer kleinen Studie aus China gelang der PCR-Nachweis des SARS-CoV-2 aus Rachen und Nasenabstrichen sowohl von symptomatischen als auch asymptomatischen Kindern von an COVID-19 erkrankten Eltern. Es gibt auch limitierte Daten zu Virusausscheidung über den Gastrointestinaltrakt bei Kindern. Es ist anzunehmen, dass Kinder ein ähnliches Infektionsrisiko wie Erwachsene haben. Allerdings sind sie häufiger asymptomatisch beziehungsweise erkranken weit weniger schwer als Erwachsene. Deshalb sollte die epidemiologische Bedeutung von Kindern und Jugendlichen für die Verbreitung der Erkrankung nicht unterschätzt werden.

Eine auffällige Häufung von Pulmonalembolien bei an COVID-19 Erkrankten

Poissy J et al. (Circulation 2020; doi: 10.1161/circulationaha.120.047430) berichten die Obduktionsergebnisse von an COVID-19 Verstorbenen in der Region von Lille in Frankreich. Im Zeitraum vom 27 Februar bis zum 31. März wurden 107 an SARS-CoV-2 Erkrankte wegen schwerer Pneumonie auf den Intensivstationen der Universitätskliniken in Lille behandelt. 22 Patienten (20,6 Prozent) entwickelten bis zum Stichtag 9. April eine Pulmonalembolie innerhalb eines medianen Zeitraums von 6 Tagen nach der Aufnahme auf einer Intensivstation. Die Autoren vergleichen dieses Ergebnis mit der Inzidenz von Pulmonalembolien bei hospitalisierten Patienten im gleichen Zeitraum des Jahres 2019. Bei ähnlicher Erkrankungsschwere bei Aufnahme war die Inzidenz von Pulmonalembolien in der Zeit der SARS-CoV-2 Pandemie mehr als doppelt so hoch (20,6 versus 6,1 Prozent). Das bedeutet eine absolute Risikoerhöhung um 14,5 Prozent! In der Zeit vom 1. Jänner bis 31. Dezember 2019 wurden auch 40 Patientinnen und Patienten mit schwerer Influenzapneumonie an Intensivstationen in Lille behandelt. Die Inzidenz von Pulmonalembolien bei an Influenza erkrankten Personen lag in dieser Zeit bei 7,5 Prozent, also ebenfalls deutlich niederer als bei den beschriebenen COVID-19 Patientinnen und Patienten. Alle Patienten erhielten eine prophylaktische Thromboseprophylaxe mit LMWH im Krankenhaus. Zwei Personen waren aufgrund eines Vorhofflimmerns und einer Vorgeschichte einer tiefen Beinvenenthrombose therapeutisch antikoaguliert.    

In mehreren Literatur-Updates wurde die Bedeutung der Gerinnungsaktivierung im Rahmen der COVID-19 für den Erkrankungsverlauf und die Sterblichkeit besprochen. Wir haben an unserer Abteilung aufgrund klinischer Beobachtungen und Laborbefunde frühzeitig mit therapeutischer Antikoagulation bei schwer an COVID-19 Erkrankten begonnen und haben keine Pulmonalembolien beobachten können.