Klinisch-ethische Empfehlungen für Beginn, Durchführung und Beendigung von Intensivtherapie bei Covid-19-PatientInnen

Statement der Arbeitsgruppe Ethik der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ARGE Ethik ÖGARI) vom 17.03.2020

HINTERGRUND

Die Prognosen zur aktuellen Covid-19-Pandemie sagen einen erhöhten Bedarf an intensivmedizinischen Ressourcen (Personal, Medizintechnik, Infrastruktur etc.) angesichts einer Zunahme an Fällen akuter Ateminsuffizienz im Rahmen eines intensivpflichtigen Multiorgandysfunktionssyndrom vorher. Dabei können Situationen eintreten, in denen der individuelle Behandlungsbedarf nicht von den vorhandenen Ressourcen gedeckt werden kann. Auch eine rasche (nominelle) Anhebung von Intensivbehandlungsplätzen kann eine adäquate Therapie einzelner PatientInnen nicht gewährleisten, da die dafür notwendigen Ressourcen komplex und daher nur langfristig aufzubauen sind.

Das mögliche Szenario ist vergleichbar mit der Katastrophenmedizin, für welche die Ethik im Laufe der Zeit konkrete Entscheidungshilfen zur Allokation medizinischer Ressourcen erarbeitet hat (z.B. Triage-Regeln). Es unterscheidet sich allerdings insofern von z.B. Großschadensereignissen, als die Covid-19-Pandemie womöglich lebenserhaltende Ressourcen der Gesundheitsversorgung wesentlich länger bindet als die Versorgung von Erkrankten, die im Rahmen eines Großschadensereignisses behandelt werden müssen.

Die folgenden Empfehlungen versuchen, angesichts der Brisanz der aktuellen Lage eine erste praktische Orientierung für die Behandlungsteams und die Betroffenen zu geben. Sie richten sich primär an die klinischen Entscheidungsträger in der Intensivmedizin (Abteilungsvorstände, FachärztInnen), wollen darüber hinaus aber auch der Öffentlichkeit erklären, an welchen Kriterien sich medizinische Entscheidungen in einer solchen Krise orientieren.

Wir wünschen uns, dass die folgenden Überlegungen und Empfehlungen lediglich das schlimmste vorstellbare Szenario betreffen, das sich hoffentlich durch die nun anlaufenden Maßnahmen noch abwenden lässt. Wir müssen vor dem Hintergrund der Erfahrungen unserer KollegInnen in Italien und in anderen Ländern aber damit rechnen, dass wir doch mit einem solchen Szenario konfrontiert werden und sehen es als unsere Verantwortung, dafür – unter Umständen nicht befriedigende, so doch begründete – Vorgehensweisen durchdacht zu haben.

EMPFEHLUNGEN

1. Die folgenden Empfehlungen sind stets vor dem Hintergrund der konkreten Situation zu beurteilen. Dazu zählen vor allem

  • die lokal verfügbaren, quantitativen und qualitativen Ressourcen der Intensivtherapie sowie alternative Behandlungsmöglichkeiten,
  • die lokale Anzahl an aktuellen und vorhergesagten Covid-19-Neuinfektionen,
  • die lokale Anzahl an aktuellen bereits behandlungsbedürftigen sonstigen Intensivpatienten.

2. Soweit im Folgenden nicht spezielle Kriterien für die Entscheidungsfindung benannt werden, sollten die etablierten allgemeinen medizinethischen Kriterien zur Therapiezielentwicklung, Indikationsstellung und Einbindung des PatientInnenwillens beachtet werden.

3. In einem Szenario der Überlastung absolut knapper Ressourcen sollte vom unter Normalbedingungen etablierten Prinzip des „first come, first serve“ abgegangen werden. Dies macht ein Triage-System erforderlich, das sowohl die Aufnahme auf eine Intensivstation (ICU) als auch die Beendigung einer Intensivtherapie anhand erweiterter Kriterien beurteilt, wie sie im Folgenden erläutert werden.

4. Der Beginn einer Intensivtherapie einer Covid-19-PatientIn sollte anhand folgender Faktoren von einer FachärztIn für Intensivmedizin beurteilt werden:

a. Kurzfristige Überlebensaussicht: Nur PatientInnen, bei denen eine begründete Chance besteht, dass sie die unmittelbare (nötigenfalls maximale) Intensivtherapie überleben, sollten aufgenommen werden. Soweit möglich, sollten zur Prognose-Einschätzung etablierte Scoring-Systeme verwendet werden (z.B. SOFA – Sequential Organ Failure Assessment).

b. Komorbidität: bei der ICU-Aufnahme sollten PatientInnen, die keine Komorbiditäten haben, gegenüber PatientInnen priorisiert werden, die bereits unabhängig von einer Covid-19-Infektion Krankheiten oder einen anderen Gesundheitszustand aufweisen, der das Outcome einer Intensivtherapie verschlechtert,. Der Einfluss der Komorbidität auf das Outcome sollte, wo möglich, anhand etablierter Scoring-Systeme beurteilt werden (z.B. mittels Frailty-Assessment).

5. Die Beendigung einer Intensivtherapie eines Covid-19-Patienten mit dem Risiko des krankheitsbedingten Versterbens kann in folgenden Situationen gerechtfertigt sein und sollte daher von einer FachärztIn für Intensivmedizin geprüft werden:

a. Aussichtslosigkeit: Wenn sich die Vitalfunktionen trotz intensivmedizinischer Maximaltherapie nicht stabilisieren lassen, sollten lebenserhaltende Maßnahmen aufgrund fehlender medizinischer Indikation beendet und auf palliativmedizinische Maßnahmen umgestellt werden.

b. Verhältnismäßigkeit: Wenn der intensivmedizinische Aufwand zur Stabilisierung der Vitalfunktionen bei PatientInnen mit hoher Frailty und sehr schlechtem Rehabilitations-Potential kein kuratives Therapieziel erreichen lässt (Therapie-Eskalation in Richtung massiv erhöhte Beatmungsinvasivität oder ECMO, höchster Katecholaminbedarf und Hämofiltrationspflichtigkeit), sollten lebenserhaltende Maßnahmen aufgrund wegbrechender medizinischer Indikation beendet und auf palliativmedizinische Maßnahmen umgestellt werden.

6. Die Beendigung der Intensivtherapie eines Covid-19-Patienten mit dem Risiko des krankheitsbedingten Versterbens sollte darüber hinaus aufgrund fraglicher Verhältnismäßigkeit im Kontext der Gesamtversorgungssituation geprüft werden, wenn

  • nach Ausschöpfung aller möglichen Alternativen (z.B. Transfer auf eine andere ICU nicht möglich)
  • der Patient zwar vital stabil ist,
  • aber nach bestmöglicher individueller Prognose auf unabsehbare Zeit von Intensivtherapie vital abhängig bleiben wird (d.h. hohe Wahrscheinlichkeit eines chronisch-kritischen Krankheitszustands), während
  • eine andere PatientIn,– gemessen an den zu plausibilisierenden Kriterien für den Beginn einer Intensivtherapie – ein besseres Outcome zu erwarten hätte,
  • aber aus Ressourcenmangel (z.B. kein Intensivbett frei) eine Intensivtherapie nicht rechtzeitig zur Abwendung der akuten Lebensgefahr erhalten könnte.

7. Die Indikationsstellung für spezifische Behandlungsmaßnahmen bei konkreter PatientIn innerhalb des Rahmens für Aufnahme und Beendigung einer Intensivtherapie sollte sich an den üblichen Kriterien (Therapieziel, Indikation, Patientenwille) orientieren und von einer dafür zuständigen FachärztIn für Intensivmedizin erfolgen. Dabei ist insbesondere zu beachten, dass die Verneinung der Indikation für eine Maximaltherapie (z.B. ECMO) nicht ausschließt, dass versucht werden kann, die PatientIn mit anderen (zweitbesten) intensivtherapeutischen Maßnahmen zu versorgen. Dabei ist die Verhältnismäßigkeit der getroffenen medizinische Maßnahmen kritisch abzuwägen.

8. In Hinblick auf die palliative Versorgung von Covid-19-Patienten sollten insbesondere folgende Punkte berücksichtigt werden:

a. Palliative Sedierung: Zur Linderung von Atemnot, Schmerzen und Angst am Lebensende bzw. in der Sterbephase kann eine palliative Sedierung gemäß den fachlichen Standards angezeigt sein. Soweit indiziert, sollte die Ressourcenallokation innerhalb der ICU eine solche palliative Sedierung ermöglichen (nötigenfalls durch adäquate anästhesiologische Hilfestellung für die Normalstation, z.B. durch Bereitstellung eines dort praktikablen Sedierungskonzepts).

b. Verabschiedung: Soweit es die Hygiene- und Isolationsvorschriften zulassen, sollte den Angehörigen eine Verabschiedung ermöglicht werden. Wo dies nicht möglich ist, sollte den Angehörigen vermittelt werden, dass die PatientIn bis zum Tod in der Obhut des (Intensiv-)Teams umsorgt und nicht alleine gelassen wird.

9. Für die Entscheidungsfindung zur Aufnahme auf eine ICU und die Beendigung einer Intensivtherapie sowie die Indikationsstellungen innerhalb dieses Rahmens sollten folgende Punkte berücksichtigt werden:

a. Alle Entscheidungen sollten so früh wie möglich initiiert werden. Sie betreffen – so wie alle potentiell intensivpflichtigen PatientInnen – auch Covid-19-PatientInnen, die aktuell noch keine Intensivtherapie benötigen. Eine antizipierende Entscheidung – am besten durch ein mobiles Intensivteam, das regelmäßig auf alle Stationen des Krankenhauses kommt – kann dabei helfen, eine Liste dieser potentiell intensivbedürftigen PatientInnen zu erstellen, um die Ressourcenallokation vorausschauend zu planen. Um die antizipierte Entscheidung zu plausibilisieren, sollte ein Scoring-System eingesetzt werden (vgl. Anlage A).

b. Die Entscheidungen sollten für alle Betroffenen (PatientInnen bzw. deren gesetzliche Vertreter, Angehörige) transparent nachvollziehbar sein. Soweit möglich, sollten sie in die Entscheidungsfindung einbezogen werden. Dazu zählt auch, dass die klinischen EntscheidungsträgerInnen über die real existierenden Ressourcen, ihre Allokation und deren absehbare Entwicklung angemessen informiert sind (z.B. Anzahl der Beatmungsmöglichkeiten, ECMO-Plätze).

c. Die Entscheidung, eine Intensivtherapie zu beginnen und fortzusetzen, sollte/muss engmaschig evaluiert werden. Wenn sich im Rahmen einer Evaluation ergibt, dass gute Gründe für die Beendigung der Intensivtherapie sprechen, sollte diese Therapiezieländerung konsequent und rasch umgesetzt werden.

d. Entscheidungen zum Verzicht auf bestimmte Maßnahmen (z.B. Reanimation, Intubation, Hämofiltration, Steigerung von Katecholaminen) sollten genauso klar in der Krankengeschichte begründet und vermerkt sein wie Entscheidungen zum Beginn bestimmter Maßnahmen.

e. Wenn möglich und nötig, sollten die obigen Entscheidungen in kollegialer Beratung, gegebenenfalls unter Beiziehung eines lokal vorhandenen Ethikberatungsdienstes, erfolgen.

f. Sobald es die Umstände zulassen, sollten die obigen Entscheidungen unter den beteiligten BehandlerInnen nachbesprochen werden, um die Gefahr der Entstehung eines posttraumatischen Stresssyndroms zu mindern.

ETHISCHE PRINZIPIEN

Die vorangegangenen Empfehlungen basieren auf folgenden ethischen Prinzipien:

  1. Gerechtigkeit, verstanden als Pflicht, knappe Ressourcen so effizient wie möglich einzusetzen und bei Allokationsentscheidungen fair vorzugehen und dabei zugleich der individuell betroffenen PatientIn gerecht zu werden.
  2. Nichtschaden, verstanden als primäre Pflicht, durch Allokationsentscheidungen zu knappen Ressourcen das Versorgungssystem nicht zu gefährden und dabei zugleich keine Behandlungen durchzuführen, welche für die individuell betroffene PatientIn mehr Schaden als Nutzen bringen.
  3. Wohltun, verstanden als Pflicht, mit den knappen Ressourcen den größtmöglichen Nutzen für die größtmögliche Zahl an Betroffenen zu erzielen und dabei zugleich jene Maßnahmen zu setzen, welche dem Wohl der individuell betroffene PatientIn am meisten entsprechen.
  4. Autonomie (Respekt gegenüber der anvertrauten Person), verstanden als Pflicht, die individuell Betroffenen auch in Ausnahmesituationen nicht zum bloßen Objekt von Allokationsentscheidungen zu degradieren und dabei zugleich die Grenzen individueller Freiheit bei Fremdgefährdung im Blick zu behalten.

Weiterführende Hinweise

Bioethikkommission. Medizin und Ökonomie: Stellungnahme der Bioethikkommission. Wien: Bundeskanzleramt; 2018. URL: https://www.bundeskanzleramt.gv.at/dam/jcr:82addbc9-5924-4dec-a898-100530f48ed4/Medizin_Oekonomie.pdf (abgerufen 16.3.2020).

Bioethikkommission. Sterben in Würde: Empfehlungen zur Begleitung und Betreuung von Menschen am Lebensende und damit verbundenen Fragestellungen. Stellungnahme der Bioethikkommission.  Wien: Bundeskanzleramt; 2015. URL: https://www.bundeskanzleramt.gv.at/dam/jcr:6d5d655b-e11d-4e65-b6a6-9fd531a033fb/Sterben_in_Wuerde.pdf (abgerufen 16.3.2020).

Europarat. Leitfaden zum Prozess der Entscheidungsfindung zur medizinischen Behandlung am Lebensende.  Strasbourg: Council of Europe; 2014. URL: http://www.coe.int/t/dg3/healthbioethic/Activities/09_End%20of%20Life/Guide/Guide%20FDV%20deutsch.pdf (abgerufen 16.3.2020).

Multidisziplinäre Arbeitsgruppe (ARGE) Ethik in Anästhesie und Intensivmedizin der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation, Intensivmedizin (ÖGARI). Therapiezieländerungen auf der Intensivstation – Definitionen, Entscheidungsfindung und Dokumentation. AINS. 2013;48(4):216-223. DOI 10.1055/s-0033-1343753.

ÖGERN, Hrsg. Großunfall – Katastrophe – besondere Gefahrenlage: 4. Tagungsband der Österreichischen Gesellschaft für Ethik und Recht in der Notfall- und Katastrophenmedizin (ÖGERN) des 4. Symposiums vom 9.11.2016 am Flughafen Graz. Wien: Neuer Wissenschaftlicher Verlag; 2017.

WHO. Guidance for Managing Ethical Issues in Infectious Disease Outbreaks. Geneva: World Health Organization (WHO); 2016.

Quelle: in Anlehnung an Raccomandazioni di etica clinica per l’ammissione a trattamenti intensivi e per la loro sospensione, in condizioni eccezionali di squilibrio tra necessità e risorse disponibili – versione 01; Pubblicato il 06.03.2020 SIAARTY (Ital. Gesellschaft für Anästhesie, Schmerztherapie, Reanimation und Intensivmedizin)

Anlage A.

Scoring-System für Triage potentieller IntensivpatientInnen

PatientInnen-Identifikations-Daten:  
Alter der PatientIn:  
Datum und Uhrzeit des Assessments:  
Station des Assessments:  
Begleiterkrankungen:  
o Schwere Herzinsuffizienz
o Dialysepflichtigkeit / Schwere Niereninsuffizienz
o Aktive maligne Grunderkrankung
o Immunsuppression
o Demenz / ADL < 15
o Schwere Lungenerkrankung
o Sonstige Grunderkrankung mit stark eingeschränkter Lebenserwartung
o Sonstige:
Intensivaufnahme indiziert:  
o Ja
o Nein
Kapazität frei:  
o Ja
o Nein
UntersucherIn:  
TeilnehmerInnen: