Die Anästhesie hat enorme Fortschritte gemacht, seit William Thomas Green Morten 1846 in Boston die erste erfolgreiche Äthernarkose durchgeführt hat. Die Möglichkeit, schmerzlos zu operieren, hat die gesamte Medizin revolutioniert und wesentlich dazu beigetragen, dass die Chirurgie sicherer wurde. Auch die Anästhesien selbst entwickelten sich weiter, wurden immer besser verträglich und risikoärmer. Doch nicht nur das: Die Anästhesiologie verstand und versteht sich zunehmend als eine ärztliche Fachrichtung, die auf breiter Basis zu einer steigenden Patientensicherheit vor, während und nach einem chirurgischen Eingriff, also perioperativ, beiträgt.Weltweit werden jährlich etwa 313 Millionen operative Eingriffe durchgeführt, in Österreich sind es fast 1,3 Millionen. Die meisten davon verlaufen völlig problem- und komplikationslos. In den Industrieländern entstehen heute bei drei bis 16 Prozent perioperative Komplikationen, also kritische Situationen während oder nach einem Eingriff. In nur 0,4 bis zwei Prozent aller Fälle kommt es zu bleibenden Schäden bzw. zu Todesfällen, welcher Ursache auch immer. Betrachtet man die anästhesiebedingte Mortalität im engeren Sinn, also die Sterblichkeit, die auf eine Maßnahme der Anästhesie zurückzuführen ist, so lag diese noch in den 1940er-Jahren bei 100 pro 100.000 Fällen. Heute hingegen sind es nur noch 0,5 bis 1 pro 100.000 Patientinnen und Patienten. Die Anästhesie-assoziierte Mortalität schließlich beschreibt Todesfälle, die im Rahmen einer Operation mit Anästhesie vorkommen – ungeachtet der Kausalität. Sie sank von 357 Sterbefällen pro 1 Million Eingriffe (1:2.800) auf aktuell 26 bis 34 pro 1 Million (1:38.460–1:29.400), trotz Zunahme der Eingriffs- und Erkrankungsschwere.

Anästhesiologisches Gesamtkonzept nötig

Kein anderes medizinisches Fach hat in ähnlich großem Ausmaß zu einer so starken Verbesserung der Patientensicherheit in den letzten 60 Jahren beigetragen wie die Anästhesiologie. Doch auf dieser Erfolgsgeschichte dürfen wir uns nicht ausruhen. Jeder einzelne Zwischenfall im Krankenhaus ist einer zu viel. Außerdem gibt es neue Herausforderung: Immer mehr Menschen brauchen Operationen, die Patientinnen und Patienten werden immer älter, immer komplexere Eingriffe sind technisch und medizinisch machbar. Das alles erhöht die Zahl der Operationen insgesamt und macht die Eingriffe auch risikoreicher.

Ein wesentlicher Sicherheitsfaktor ist ausreichend gut ausgebildetes Personal. Anästhesistinnen und Anästhesisten erheben die individuellen Risiken der Patienten vor einem Eingriff, kennen die spezifischen Herausforderungen des Eingriffs gut und sind auf Komplikationen vorbereitet, die bei der Operation auftreten können. Es ist ein anästhesiologisches Gesamtkonzept, das auch die Zeit vor und nach dem chirurgischen Eingriff umfasst und für Sicherheit sorgt.

Von Checklisten bis zum Temperaturmanagement

Die Anästhesiologie arbeitet beständig weiter an der Erhöhung der Patientensicherheit: Das European Board of Anaesthesiology (EBA) hat gemeinsam mit der European Society of Anaesthesiology (ESA) die Helsinki Deklaration zur Patientensicherheit publiziert. Eine eigene Task Force soll dafür sorgen, die darin festgelegten Standards zu etablieren. Zudem existiert eine Plattform, die Sicherheitswarnungen und Empfehlungen aus europäischen „Incident Reporting“-Systemen sammelt und zur Verfügung stellt. Auch in Österreich werden diese Standards täglich angewendet. Und zusätzlich entwickeln wir weitere Handlungsempfehlungen, um kritische klinische Situationen besser beherrschbar zu machen.

Ein gutes Beispiel ist die von der WHO empfohlene Checkliste für Operationsteams. Laut einer Studie ließ sich damit an Kliniken das Sterblichkeitsrisiko bei großen Eingriffen von 1,5 auf 0,8 Prozent der Fälle senken. Schwere postoperative Komplikationen konnten von elf auf sieben Prozent reduziert werden.

Ein anderes Beispiel sind farbliche Spritzenkennzeichnung nach Medikamentengruppen, die helfen, schwerwiegende Medikationsfehler in der Hektik des Klinikalltags zu vermeiden. Dafür wurde die ISO-Norm 26825 entwickelt, die inzwischen in vielen Ländern etabliert ist. Auch das Temperaturmanagement ist ein gutes Beispiel: Kühlen Patienten während eines längeren Eingriffs zu sehr aus, kann das schwerwiegende Folgen nach der OP haben, zum Beispiel kardiale Komplikationen, erhöhten Blutverlust oder häufigere Wundinfektionen. Optimiertes Wärmemanagement ist vergleichsweise einfach, trägt aber erheblich zur Patientensicherheit bei.

Mit  Big Data und Digitalisierung zu noch mehr Sicherheit

Der neue Megatrend Digitalisierung kann die Patientensicherheit nochmals deutlich vorantreiben. In kaum einem anderen Fach wird eine derart große Menge an Patientendaten erhoben wie in der Anästhesiologie – im Notarztwagen, während der Anästhesie, in der Intensivstation. Das prädestiniert unser Fach für einen zunehmenden Einsatz digitaler Hilfsmittel. All diese Informationen aus unterschiedlichen Datenquellen – von den Vitalfunktionen bis zur Medikation der Patienten – können durch entsprechende Systeme digital verknüpft und somit für Diagnose, Prognose oder Therapieoptimierung genützt werden. Die Vernetzung großer Datenmengen erlaubt auch den Aufbau von „Decision Support“-Systemen, also Computerprogrammen beziehungsweise künstlicher Intelligenz, die die Ärztinnen und Ärzten bei ihren Entscheidungen unterstützen, indem sie Fakten auswerten und Ergebnisse rasch und übersichtlich darstellen. Während der Anästhesie, in der Intensiv- oder in der Notfallmedizin müssen Ärztinnen und Ärzte unter hohem Zeitdruck Entscheidungen für das Wohl und die Sicherheit der Patienten treffen. Mithilfe von Decision Support-Systemen können sie unter anderem mögliche Risiken erkennen und wahrscheinliche Komplikationen eher voraussehen.

Ein anderes wichtiges Anwendungsgebiet könnte ein digital gestütztes Arzneimittel-Management, besonders auf der Intensivstation, sein. Bei Intensivpatienten werden regelhaft viele und stark wirksame Medikamente eingesetzt. Hierbei kann eine kaum unüberschaubare Zahl möglicher Interaktionen mit gefährlichen Folgen entstehen. Ein datengestütztes Alarmsystem kann auf gefährliche Wechselwirkungen aufmerksam machen und somit zur Sicherheit beitragen.

Mithilfe digitaler Frühwarnsysteme lassen sich, um ein anderes Beispiel zu nennen, Herzstillstände bei Risikopatienten deutlich verringern. Dabei werden mehrmals täglich Vitalfunktionen mit einem mobilen Sensorset gemessen und die Daten per WLAN an eine Überwachungsstelle übermittelt. Werden bestimmte Werte über- oder unterschritten, schlägt das System Alarm. Ein solches Frühwarnsystem kann rund siebenmal mehr Meldungen zu kritischen Zuständen der Patienten auslösen als dies bei Patienten ohne solche Überwachungssensoren gemacht wird, zeigte eine deutsche Studie.

Quellen:

Deklaration von Helsinki zur Patientensicherheit in der Anästhesiologie, 2010 
STATISTIK AUSTRIA, Spitalsentlassungsstatistik basierend auf Daten des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz. Erstellt am 28.02.2019

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