Die International Association for the Study of Pain (IASP) und die Europäische Schmerzföderation (EFIC) haben 2019 zum „Global Year Against Pain in the Most Vulnerable” ausgerufen: Das ganze Jahr über haben sich Fachgesellschaften wie die ÖGARI in aller Welt für Menschen starkgemacht, die besonders gefährdet sind, dass ihre Schmerzen übersehen, übergangen oder falsch eingeschätzt werden, weil sie nicht oder nicht ausreichend für sich sprechen können.

Zu diesen vulnerablen Personen zählen zwei Patientengruppen, auf die ich hier als ÖGARI-Vertreterin für die Schmerzmedizin exemplarisch eingehen möchte: Kinder und sehr alte Menschen – und hier insbesondere jene, die unter Demenz leiden oder deren Sprachfähigkeit eingeschränkt ist. Sie haben ein erhöhtes Risiko, unzureichend therapiert zu werden und eine chronische Schmerzerkrankung zu entwickeln. Bei geriatrischen Patienten kann dies auch zu einer Steigerung von Morbidität und Mortalität führen.

Für vulnerable Patientinnen und Patienten ist ein hohes Maß an Expertise vonnöten. Man denke nur an die Herausforderung, hochwirksame Analgetika bei einem Frühchen zu dosieren, ohne negative Auswirkungen zu verursachen. Oder wie schwierig es ist, die Schmerztherapie bei einem schwer dementen Patienten optimal zu organisieren, der sich kaum mitteilen kann. Hier ist das Know-how der Schmerzmedizinerinnen und -mediziner gefragt und hier liegt auch unsere große Verantwortung.

Unbehandelte Schmerzen bei Kindern – lebenslange Schmerzkarriere

Bei Kindern etwa bedeuten ungenügend behandelte Schmerzen weit mehr als überflüssiges aktuelles Leiden. Wenn sie starke Schmerzen ohne adäquates Schmerzmanagement erleben müssen, sind die negativen Langzeitfolgen vorprogrammiert. Un- oder unterbehandelte Schmerzen bei Frühgeborenen schlagen sich also auf deren gesamte Entwicklung negativ nieder. Im Schulalter werden diese Kinder Blutabnahmen und andere Prozeduren als deutlich schmerzhafter beurteilen – ein Vorgeschmack auf eine womöglich lebenslang erhöhte Schmerzempfindlichkeit. Wer zu Beginn seines Lebens Schmerzen ausgesetzt ist, hat ein erhöhtes Risiko, im Erwachsenenalter chronische Schmerzen, Ängste und depressive Störungen zu entwickeln. Eine angemessene Behandlung von Säuglings- und Kinderschmerzen ist daher unerlässlich, sonst legt man den Grundstein für eine lebenslange Schmerzlaufbahn.

Dieses Wissen scheint noch nicht überall in der Praxis angekommen zu sein. Eine Übersichtsstudie zeigte beispielsweise, dass Neugeborene auf der Intensivstation in vielen Fällen durchschnittlich sieben bis 17 schmerzhaften Eingriffen pro Tag unterzogen werden – es aber bei der überwiegenden Mehrheit der Säuglinge keine analgetische Strategie gibt. Kinder mit schweren Erkrankungen müssen sich häufig schmerzhaften Eingriffen aussetzen, zum Beispiel Knochenmarkaspirationen oder Lumbalpunktionen. Selbst gesunde Kinder erleben während ihrer Kindheit eine erhebliche Anzahl von schmerzhaften medizinischen Prozeduren wie Impfungen. Darüber hinaus leiden konservativen Schätzungen zufolge 20 bis 35 Prozent der Kinder und Jugendlichen weltweit unter chronischen Schmerzen.

Schon jetzt gibt es eine Vielfalt von Empfehlungen, wie akute und chronische Schmerzen bei Kindern vermieden oder gelindert werden können – von der altersgerechten Ablenkung während des Eingriffs über die richtige Dosierung von Schmerzmitteln bis hin zum Einbeziehen der Eltern im Sinne eines multimodalen Ansatzes. Die ÖGARI-Sektion Schmerzmedizin arbeitet an einem Positionspapier zur Schmerzbehandlung von Kindern, das im 1. Halbjahr 2020 erscheinen soll: Wir hoffen, damit eine bessere Orientierung zu schaffen, damit dem Kindeswohl im Behandlungsalltag künftig noch mehr Rechnung getragen wird.

Demenzpatienten leiden öfter unter unbehandelten Schmerzen

Auch bei geriatrischen Patientinnen und Patienten ist die Schmerzmedizin so herausfordernd wie entscheidend. Es ist bekannt, dass mit dem Alter die Schmerz- und Verletzungshäufigkeit steigt und die Heilungsprozesse langsamer verlaufen. Was alte Menschen aber so besonders vulnerabel macht, ist der Umstand, dass sie oder auch ihre Umgebung ihre Beschwerden zum Teil einfach hinnehmen – weil sie glauben, das müsse im Alter so sein. Zum Teil können sie auch selbst nichts mehr tun, um ihre Schmerzen zu bewältigen, weil sie zu gebrechlich oder kognitiv nicht dazu in der Lage sind.

Ärztinnen und Ärzte haben das viel zu lange als fehlende Schmerzempfindlichkeit missinterpretiert. Aber die Schmerzempfindlichkeit nimmt im hohen Alter keineswegs ab, auch bei dementen Patienten nicht. Polypharmazie und Komorbiditäten schränken bei schmerzgeplagten älteren Menschen die verfügbaren Behandlungsoptionen weiter ein – und wie bereits angesprochen ist eine Einschätzung der Schmerzen besonders dann schwierig, wenn Demenz im Spiel ist. So zeigt eine Studie an 7.609 selbstständig lebenden Erwachsenen, dass 63 Prozent der älteren Erwachsenen mit Demenz an chronischen Schmerzen leiden, im Vergleich mit 54 Prozent der Erwachsenen ohne Demenz. Viele Demenzpatienten erhalten bei vergleichbaren schmerzhaften Krankheitsbildern deutlich weniger Analgetika als Patienten ohne kognitive Einschränkungen. Eine Studie bei Hüftfrakturpatienten belegt, dass Demenzkranke um ein Drittel weniger Morphindosen erhalten als kognitiv unauffällige Betroffene. Doch unbehandelte Schmerzen verstärken die Demenz und neuropsychiatrische Symptome, die im Zuge einer Demenz-Erkrankung auftreten können: Aggression, Unruhe, Schlafstörung, Halluzinationen, aber auch Rückzugstendenz, Apathie oder Depression. Da die Betroffenen ihr Leiden oft nicht mehr verbal äußern können, reagieren sie mit Verhaltensauffälligkeiten.

Diese beiden Beispiele verdeutlichen, wie wichtig das ganz spezielle Wissen von Anästhesistinnen und Anästhesisten bzw. Schmerzspezialistinnen und -spezialisten ist. Gerade für die Behandlung vulnerabler Patientinnen und Patienten braucht es größtmögliche Expertise.

Quellen:

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